Mülheim. Mülheimer Kleiderkammern wenden sich mit einem dringenden Appell an die Bevölkerung: Bitte spendet Anziehsachen! Wer derzeit besonders leidet.

Second Hand ist angesagt: Immer mehr Menschen achten auf Nachhaltigkeit. Doch leider ist es nicht nur „très chic“, sich Klamotten aus zweiter Hand zu gönnen. In vielen Fällen ist es schlicht eine Notwendigkeit: Auch in Mülheim fehlt einer wachsenden Zahl von Menschen das Geld für Neuware. Zudem erdrückt manchen die Sorge, dass die eigene finanzielle Situation sich in den kommenden Monaten deutlich verschlechtern könnte. Die Kleiderkammern registrieren eine verstärkte Nachfrage – und appellieren mit Nachdruck an die Mülheimer, gut erhaltene Kleidungsstücke zu spenden.

Freitag vergangener Woche, um die Mittagszeit: Im Second-Hand-Shop des Diakoniewerks Arbeit und Kultur an der Georgstraße gehen vor allem Frauen ein und aus. Darunter Teresa Radek, die den Laden mit ihrem kleinen Hund ansteuert und beim Ständer mit den Jacken einen ersten Halt einlegt. 47 Jahre hat sie als Krankenschwester gearbeitet, erzählt sie, trotzdem reiche das Geld jetzt als Rentnerin oft nicht weit. „Ohne Zusatzrente wäre das eine Katastrophe.“

Mülheimerin (64): „Noch reicht’s für eine Scheibe Brot und ein Dach über dem Kopf“

Auch interessant

Die Kleiderkammer sei da hilfreich, „auch wenn es bei mir noch immer für eine Scheibe Brot und ein Dach über dem Kopf reicht“. Anderen Menschen gehe es gewiss schlechter: „Man sieht ja, wie die Schlangen hier an der Tafel oder an der Möbelausgabe immer länger werden.“ In Mülheim seien viele Menschen „auf diese Einrichtung angewiesen“, meint die 64-Jährige. Sie selbst kauft Second-Hand-Klamotten auch wegen der besseren Öko-Bilanz, „ich mag diese kapitalistische Welt nicht“.

Man wisse aber auch tatsächlich nicht, welche Belastungen noch auf einen zukommen, die Gas- und Strompreise seien beängstigend, so Radek. „Ich fürchte, dass ich mindestens bei Kultur- und Sportangeboten bald Abstriche machen muss.“

„Ich habe einfach gar kein Geld und kann oft nur gucken“, sagt eine frustrierte Frau

Auch interessant

Über derlei Vergnügungen denkt eine 48-jährige Mülheimerin, die ihren Namen nicht nennen mag, gar nicht erst nach. Die Verzweiflung steht ihr ins Gesicht geschrieben. Für sie seien schon die Oberteile für sieben Euro „viel zu teuer“, sagt die Frau mit Frust in der Stimme. „Ich habe einfach gar kein Geld und ich kann oft nur gucken.“ Sie verlässt den Shop unverrichteter Dinge. Genau wie eine alleinerziehende Frau, die mit ihrem 17-jährigen Sohn zusammenlebt. Im Rausgehen murmelt sie etwas von „finanzieller Not“ und ist verschwunden.

Geschäftsführer Dominik Schreyer vor dem Eingang der Kleiderkammer an der Georgstraße.
Geschäftsführer Dominik Schreyer vor dem Eingang der Kleiderkammer an der Georgstraße. © FUNKE Foto Services | Oliver Müller

Die meisten Kunden in ähnlich prekärer Situation aber finden etwas an der Georgstraße: Es gehe deutlich mehr Ware über die Ladentheke als früher, sagt Dominik Schreyer, Geschäftsführer des Diakoniewerks, „es kommen auch viel mehr Menschen“. Das zeige sich auch an der Essensausgabe nebenan: „Mittlerweile gehen 2000 Tüten pro Woche raus. Da spielt auch der Krieg in der Ukraine massiv mit rein.“ Man verpflege an der Tafel allein rund 700 bis 800 Ukraine-Flüchtlinge wöchentlich.

Diakoniewerk und Caritas sind sich einig: Wir brauchen deutlich mehr Kleiderspenden

Damit das Diakoniewerk seinen Job weiter gut machen kann, benötigt man dringend gut erhaltene, gebrauchte Anziehsachen, sagt Schreyer. Er ruft die Mülheimer dazu auf, Kleider zu spenden – „vor allem warme Sachen“ – und wahlweise an der Georgstraße 28 abzugeben oder in einen der Textilcontainer des Diakoniewerkes zu werfen.

Auch interessant

Ähnlich äußert sich Elke Hüttenhoff, die bei der Caritas in der Schwangerenberatung arbeitet und ehrenamtlich in der Kinder-Kleiderkammer Ringelsöckchen mitwirkt. „Die Nachfrage ist riesig. Von Baby- bis Erwachsenenkleidung brauchen wir einfach alles.“ Gern nehme man auch Extrakleines: „Es passiert immer häufiger, dass wir nach Anziehsachen für Frühchen gefragt werden, aber so etwas hatten wir noch nie.“ Abgegeben werden können die Sachen an der Hingbergstraße 176, und zwar in der Wäscherei der Kleiderkammern „Ringelsöckchen“ und „Jacke wie Hose“, die Erwachsenen-Kleidung anbietet.

Nicht in allen Second-Hand-Läden ist die Krise Thema, vielerorts läuft ,business as usual’

Auch wenn es einen Run auf Gebrauchttextilien gibt: Nicht in allen Mülheimer Second-Hand-Läden ist die Krise Thema, vielerorts läuft ,business as usual’. „Ich habe zwar gut zu tun“, sagt etwa Kristina Klaus, die Chefin von „The Room“ in Broich, „doch hier kommt keiner mit Angst im Nacken hin.“ Viele der Kundinnen und Kunden legten Wert auf Nachhaltigkeit. „Es kommen zum Teil auch ganz schicke Damen. Das Image hat sich verändert: Second Hand heißt längst nicht mehr ,für arme Leute’.“ Wenn Klaus etwas länger nicht loswird, steckt sie es in die Container der Hilfsorganisationen.

Sofia Kessel von „Chio-o-Bella“ an der Wallstraße betont, dass es bei ihr „nur hochwertige Ware“ gibt. Mit den Shops von Diakonie & Co. sei das nicht zu vergleichen. Die Inhaberin registriert mehr Kunden, doch nicht jeder verrate seine Beweggründe. „Ich höre aber auch Sätze wie: Das Geld wird knapp.“ Auch bei Britta Hövelmann, Inhaberin von „Secondo“ an der Dohne, fallen mittlerweile Bemerkungen wie „Ich muss nach Pullis gucken, ich will die Heizung ja noch nicht anmachen“.

Die Besitzerin von „Die 2. Chance“ an der Althofstraße verspürt selbst Existenzangst

Mary Mitolidou-Ettrich, Besitzerin von „Die 2. Chance“ an der Althofstraße, verspürt selbst Existenzangst: „Erst Corona, dann die Hitzewelle, jetzt die Panik wegen der Energiekrise – und dazu noch die Baustelle vor der Tür“, das sei zu viel, um gut über die Runden zu kommen. Dabei sei ihr Konzept mit hochwertigen Marken-Artikeln früher immer gut angekommen, seufzt sie – und hofft, wie so viele, auf bessere Zeiten.

Auch Schuhe aus zweiter Hand gibt’s in der Kleiderkammer des Diakoniewerks.
Auch Schuhe aus zweiter Hand gibt’s in der Kleiderkammer des Diakoniewerks. © FUNKE Foto Services | Oliver Müller

Rosi Witthaus, eine der Mitarbeiterin des Diakoniewerks, hört viele Menschen klagen, „die Unsicherheit ist groß“. Auch sie selbst überlege sich, „ob ich’s mir noch leisten kann, jetzt schon zu heizen“. An allen Ecken und Enden werde gespart, sagt sie. Und dann fällt ihr noch etwas ein, was an der Georgstraße ebenfalls stark nachgefragt und leider immer knapper wird: Spielzeug! Spenden sind auch hier erwünscht.