Mülheim. Immer noch Pandemie und nun auch noch Ukraine-Krieg: Die Akteure des Psychosozialen Krisenmanagements in Mülheim stehen vor Herausforderungen.

Die Planung des städtischen Krisenstabs war eigentlich eine andere: Im Spätsommer vergangenen Jahres dachte man in Mülheim, die Pandemie verlöre angesichts steigender Impfzahlen an Bedrohlichkeit, das Psychosoziale Krisenmanagement rückte somit in den Hintergrund. Die Realität aber belehrte die Entscheider eines Besseren: Auch wenn durch Covid-19 inzwischen weit weniger Menschen auf den Intensivstationen landen, so löst die Pandemie bei nicht wenigen nach wie vor Sorgen aus. Hinzu kommt nun die Angst wegen des Ukraine-Krieges.

Höchste Zeit, entschied man im Krisenstab, den Koordinator des kommunalen Psychosozialen Krisenmanagements, Harald Karutz, erneut ins Boot zu holen. Zwei nervenzehrende Jahre Corona-Pandemie und immer noch kein Ende in Sicht, nun ist auch noch ein Krieg entbrannt – andauernde Belastungen wie diese setzen den Menschen zu, da ist man sich im Mülheimer Krisenstab sicher und will Hilfestellung anbieten. Nach positiven Erfahrungen zu Beginn der Pandemie mit dem Psychosozialen Krisenmanagement, das der Diplom-Pädagoge und Notfallseelsorger Harald Karutz in Mülheim mitinitiiert hatte und dessen Koordinator er bis Herbst vergangenen Jahres war, will die Stadt nun daran anknüpfen.

Mülheimer, die unter den aktuellen Krisen leiden, sollen Unterstützung finden

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Harald Karutz, im Hauptberuf Professor für Psychosoziales Krisenmanagement in Hamburg, hat jetzt wieder die Koordinierung des kommunalen Psychosozialen Krisenmanagement in seiner Heimatstadt Mülheim übernommen und bringt neue Ideen mit, um die Mülheimerinnen und Mülheimer, die unter den aktuellen Krisen leiden, zu unterstützen. Neben den bewährten Corona-Coaches, zu denen bald neue hinzukommen sollen (Informationen und Anmeldung unter merit.tinla@muelheim-ruhr.de), sind nun auch Gesprächsabende – in Präsenz! – geplant, bei denen sich die Teilnehmenden unter der Überschrift „Wege aus der Krise finden“ informieren und austauschen können.

Niederschwellig zu sein, sei der Schlüssel eines jeden Angebotes, das man unterbreite, so Karutz. Neben den Corona-Coaches, die ihre Mitmenschen im direkten Umfeld wie Nachbarschaft oder Bekanntenkreis mit Informationen zu Hilfsangeboten versorgen, sollen auch die Bürgerforen, die im April starten, dazu dienen, ganz leicht ins Gespräch zu kommen. Hilfe zur Selbsthilfe, nennt Oberbürgermeister Marc Buchholz den Ansatz: „Sich beieinander unterhaken können, sich gegenseitig zu stützen.“ Es gelte, die Sprachfähigkeit in der Stadtgesellschaft zu fördern.

Weg vom Gegeneinander: „Die Stadt, das sind wir alle“, betont der Krisen-Experte

Dass das dringend nötig ist, dass der Dialog während der Pandemie gelitten hat, teils verstummt oder aber deutlich rauer geworden ist, hat nicht nur Harald Karutz erlebt. Der Experte schildert: „Die Nerven liegen inzwischen bei vielen blank. Die ganze emotionale Betroffenheit in der Pandemie ist ja nicht weg, nur weil die Inzidenz zwischenzeitlich gesunken ist.“ Die lange Pandemiedauer von über zwei Jahren habe vielen enorme Mengen von Energie geraubt. „Den Weg zurück in den Alltag zu finden, stellt psychosoziale Herausforderungen dar“, so Karutz.

An manchen Stellen sei gar das Gegeneinander aufgebrochen, skizziert Karutz: „Die Stadt, die Regierenden, die da oben gegen uns hier unten. Aber die Stadt, das sind wir alle.“ Die Fragestellung, unter die auch der städtische Krisenstab die Wiedereinstellung von Harald Karutz gestellt hat, laute also: „Wie bekommt man die Stadtgesellschaft zusammengeführt und krisenfest gemacht?“ Die Zielsetzung formuliert Stadtdirektor Frank Steinfort so: „Wir wollen die Kommunikation zwischen uns, die alle gegen die Krise kämpfen, und Teilen der Bevölkerung, die uns kritisch gegenüberstehen, wieder befördern.“

Harald Karutz sieht die Belastung vieler Menschen durch die zehrende Pandemie-Zeit und nun auch noch durch Angst vor einem Krieg und möchte mit Hilfe des Netzwerkes, das das Psychosoziale Krisenmanagement in Mülheim bildet, Hilfestellung bieten.
Harald Karutz sieht die Belastung vieler Menschen durch die zehrende Pandemie-Zeit und nun auch noch durch Angst vor einem Krieg und möchte mit Hilfe des Netzwerkes, das das Psychosoziale Krisenmanagement in Mülheim bildet, Hilfestellung bieten. © FUNKE Foto Services | Tanja Pickartz

Harald Karutz sieht die Notwendigkeit dessen und formuliert, was vielen Menschen nach der zehrenden Pandemie-Zeit mit Lockdowns und Kontaktbeschränkungen gut täte: „Wir müssen wegkommen von dem Leben nach Anordnungen“, sagt der Mülheimer, „uns hat die Politik nun zwei Jahre lang gesagt, was wir zu tun und was wir zu lassen haben. Das macht Ohnmachtsgefühle.“ Wenn dann einige demonstrieren gingen, könne er das verstehen, denn: „Diejenigen erleben sich dann als selbstwirksam.“

Angst vor Viren und Angst vor Bomben stellen psychosoziale Herausforderungen dar

Als selbstwirksam, als tatkräftig und eben nicht als handlungsunfähig könne sich aber auch fühlen, wer zu den Gesprächsabenden komme, sich als Corona-Coach engagiere oder eines der Bilderbücher mit seinen Kindern oder Enkeln lese, die Harald Karutz zusammen mit Merit Tinla entwickelt hat und die Kinder auf dem Weg durch die Pandemie helfen sollen.

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Dass zur Sorge wegen des Virus nun auch noch die Angst vor einem Krieg gekommen ist, konnten die Entscheider bei der Stadt nicht ahnen, als sie den Fachmann für Krisenmanagement zurück ins Boot holten. Krisenstabsleiter Frank Steinfort ist indes sicher: „Zu lernen, miteinander zu reden und Resilienz zu entwickeln, hilft auch gegen Kriegsängste.“

Netzwerk aus vielen Akteuren formt Mülheims Psychosoziales Krisenmanagement

Das Psychosoziale Krisenmanagement besteht laut Harald Karutz aktuell aus einem Netzwerk von 27 Mitwirkenden, die in verschiedenen städtischen Ämtern und Einrichtungen, Wohlfahrtsverbänden und Hilfe-Initiativen tätig sind. „Wir tauschen uns in dem Netzwerk regelmäßig aus. Was aus dem Netzwerk kommt, transportiere ich in den Krisenstab“ verdeutlicht Karutz eine seiner Schlüsselaufgaben als Koordinator.

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Hilfsangebote in Mülheim – eine Auswahl an Initiativen und Beratungen

Zahlreiche Initiativen bieten Unterstützung – hier eine Auswahl: Aktion „Nachbarn helfen“ vom Centrum für bürgerschaftliches Engagement (CBE): 01573/22 26 007, Corona-Hilfetelefon der Stadt: 0800/10 03 839. Telefonseelsorge: 0800/11 10 111. Nummer gegen Kummer für Kinder und Jugendliche: 11 61 11. Krisenberatung für Alleinerziehende: 0201/82 77 47 99.

Einkaufshilfen oder Gassigänge bietet etwa der Verein 4330hilft an: 0208/30 99 54 54, Hilfenetzwerk der Vereinten Evangelischen Kirchengemeinde (VEK): 0157/86 40 36 72, Nachbarschaftsverein Augusta-/Gustavstraße: 0208/37 74 98 61.

Psychosoziale Angebote halten bereit: Awo Beratung: 0208/45 00 30, Beratungsstelle für Frauen: 0208/305 68 23, Caritas Beratung: 0208/30 00 820, Paritätischer Wohlfahrtsverband: 0208/30 04 80, Deutsches Rotes Kreuz mit Kleiderkammer und Essen auf Rädern: 0208/45 00 60, Diakoniewerk: 0208/ 45 95 313, Evangelische Beratungsstelle: 0208/32 014.