Mülheim. Sergio Sirik, Wirt des Mülheimer Restaurants Walkmühle, hat Familie in der Ostukraine. Was er aus erster Hand aus seiner Geburtsstadt berichtet.
Besonders schwer unter Beschuss im Ukraine-Krieg steht seit Tagen die Großstadt Charkiw im Osten des Landes. Die Menschen harren in Bunkern und Kellern aus, während draußen Raketen einschlagen und es zu Gefechten zwischen Soldaten kommt. Sergio Sirik, Inhaber des Mülheimer Restaurants Walkmühle im Rumbachtal, ist in Charkiw geboren und aufgewachsen.
Für seine Frau Olga und ihn sowie den Kindern Vlad und Lidia bricht derzeit eine Welt zusammen — im wahrsten Sinne des Wortes. Sie sind fassungslos und hilflos, versuchen den Kontakt zu Familienmitgliedern und Freunden aufrechtzuerhalten.
Sergio Sirik ist in Charkiw zur Schule und zur Universität gegangen, ehe es ihn als Student im Jahr 2002 an die Universität nach Duisburg zog. Der Diplom-Betriebswirt machte sich 2006 selbstständig, übernahm das Restaurant „Il Piccolo Principe“ in der Stadtmitte. Seit 2017 ist er der Chef im Mülheimer Traditions-Restaurant Walkmühle. Hier sitzt er nun am Tisch und erzählt gemeinsam mit Olga und Vlad von der Vergangenheit in der Ukraine, von den engsten Verwandten, die in Charkiw leben und nicht einmal vor den Bomben fliehen können.
Die Eltern des Mülheimer Gastwirts verstecken sich in einem ukrainischen Keller
Seine Eltern Zoja (67) und Eugen (68) sind „gefangen“ in einem Keller unter einem Kindergarten. Sie liegen auf dem Boden oder sitzen auf Kinderstühlen. „Wenn wir Kontakt haben, lautet meine Frage nicht mehr, wie es ihnen geht, sondern ob alle noch leben!“, sagt Sergio Sirik. Die unruhigen und zum Teil schlaflosen Nächte seit Beginn des Krieges sind ihm anzusehen. In der Nähe des Kindergartens, in dessen Kellerräumen sich Siriks Eltern befinden, haben die Familienmitglieder mütterlicherseits Schutz gefunden.
Hierzu zählt Olgas Großmutter Tamara, die 100 Jahre alt ist. Sie hat den Zweiten Weltkrieg miterlebt und muss nun erneut einen solchen Albtraum ertragen. „Tamara war Lehrerin, im Krieg aber Krankenschwester. Sie wurde an der Front eingesetzt und leistete bei Verwundeten Erste Hilfe. Sie ist eine starke Frau“, erzählt Olga, die ebenfalls aus Charkiw stammt und ihren heutigen Mann Sergio während der Studien- und Sprachkurs-Zeit in Deutschland lieben gelernt hat.
Die 100-jährige Großmutter erlebt zum zweiten Mal einen Krieg
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Das im Zweiten Weltkrieg Erlebte konnte Urgroßmutter Tamara in einem in russischer und deutscher Sprache erschienenen Buch schildern. Nun ist der Wahnsinn zurückgekehrt. Und es ist für die Familie nicht zu verstehen. Sergio Sirik erklärt: „In der Ostukraine ist ukrainisch — so wie in den anderen Gebieten des Landes auch — die Amtssprache, aber 90 Prozent der Bevölkerung spricht im Alltag russisch. Die Gründe dafür sind die politischen Verhältnisse in der Vergangenheit, die wirtschaftliche und geografische Nähe zu Russland.
Putin denkt, dass ein Gebiet, in dem überwiegend russisch gesprochen wird, auch zu Russland gehören müsse. Aber das ist falsch! Die meisten Menschen dort denken nicht so. Sie haben enge Kontakte zu Russland, insbesondere die älteren Leute — wie beispielsweise mein Vater — sind der Meinung, eher in Richtung Russland als nach Westeuropa zu blicken. Aber sie leben in der Ukraine in einem demokratischen Staat und wollen, dass dies auch so bleibt. Sie sind Russland zugeneigt und werden nun einfach so niedergemetzelt.“
Es gibt kaum Möglichkeiten, aus der Stadt Charkiw heil herauszukommen
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Sergio Sirik und sein 23-jähriger Sohn Vlad aus erster Beziehung reden über die Politik und die Auswirkungen des Krieges ruhig und gefasst. Wladimir Putin bezeichnen sie dabei als „Teufel“ und als „Mörder“. „Aus der Stadt Charkiw gibt es kaum eine Möglichkeit, heil herauszukommen oder jemanden herauszuholen. Einige Glückliche haben es geschafft. Wenn überhaupt noch ein fahrtüchtiges Auto vorhanden ist, gibt es keinen Sprit und man bleibt möglicherweise irgendwo zwischen den Städten liegen — und das alles im ukrainischen Winter, zudem ständig der Gefahr ausgesetzt, sein Leben durch Waffengewalt zu verlieren“, sagt Vlad.
Die Universitätsstadt Charkiw
Charkiw (russisch auch Charkow) ist mit etwa 1,5 Millionen Einwohnern nach der Hauptstadt Kiew die zweitgrößte Stadt in der Ukraine.
Die Stadt, die im Nordosten, nahe der Grenze zu Russland liegt, ist mit 42 Universitäten und Hochschulen ein bedeutendes Wissenschafts- und Bildungszentrum des Landes.
Partnerschaften mit deutschen Städten bestehen mit Nürnberg und Berlin, speziell mit dem Bezirk Steglitz-Zehlendorf.
Ukrainer und Russen leben in Charkiw. Daneben gibt es Minderheiten wie etwa Armenier, Aserbaidschaner, Belarussen, Usbeken und Tataren.
Die Nervosität und die Hilflosigkeit im friedlichen Mülheim angesichts der dramatischen Geschehnisse im 2300 Kilometer entfernten Charkiw wächst. Aber tatenlos zusehen kann die Familie Sirik nicht. Sie hat Kontakt zu mehreren deutschen Organisationen aufgenommen und sammelt nun auf eigene Faust finanzielle und materielle Spenden wie Schlafsäcke, Taschenlampen, Bandagen, Verbände, Powerbanks, Taschen, trockene Babynahrung, die dann in LKW in die Ukraine gebracht werden sollen.
Sergio Sirik sagt, dass er sich über jeden freue, der in die Walkmühle käme und seine Hilfe mit einer finanziellen oder materiellen Unterstützung anbieten könne. Und zwischen allen Gesprächen und Überlegungen, was man noch alles tun könnte, fällt der Blick immer wieder voller Sorge auf das Mobiltelefon. Und mehrmals am Tag schickt er die bange Frage via Messenger ab: „Lebt ihr noch?“