Mülheim. Mülheims Arbeitsmarkt lässt in der Pandemie Federn, aber nicht so stark wie befürchtet. Es gibt aber die ganz großen Verlierer in Corona-Zeiten.
Der Druck am Arbeitsmarkt auf Menschen mit vergleichsweise geringen Qualifikationen wird immer größer. In der Corona-Pandemie ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen in Mülheim noch mal kräftig angewachsen. Gleichzeitig beklagt die Wirtschaft branchenübergreifend einen Mangel an Fachkräften. Ein Widerspruch? Nein, leider nicht, sagt Agentur-Geschäftsführer Jürgen Koch.
Die Zahl der Mülheimerinnen und Mülheimer ohne regulären Job am ersten Arbeitsmarkt ist 2021 gestiegen. 9303 Menschen waren unterbeschäftigt, wie es im Fachjargon der Arbeitsverwaltung heißt, eine Steigerung im Vergleich zum Vorjahr um 1,5 Prozent. Das kommt einer Unterbeschäftigungsquote von 10,5 Prozent gleich.
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Hinter der Zahl der Unterbeschäftigten verbergen sich nicht nur die offiziell als arbeitslos geltenden Menschen (im Jahresdurchschnitt 7350 Personen), sondern zusätzlich jene Personen, die in Arbeitsmarktmaßnahmen stecken, aber eben keinen regulären Job am ersten Arbeitsmarkt haben. Auffällig bei den Arbeitslosen: Immer mehr von ihnen sind aus dem Leistungsbezug der Arbeitslosenversicherung herausgefallen. So beziehen fast drei Viertel von ihnen mittlerweile nur noch die Grundsicherung.
Entsprechend stellt Agentur-Chef Koch besorgt fest, dass die Masse an Langzeitarbeitslosen in der Stadt erheblich angewachsen ist im Vorjahr. Nicht nur, dass die Arbeitslosigkeit im Vorjahr um 2,9 Prozent angewachsen ist: Die Langzeitarbeitslosigkeit hat weit überproportional zugenommen, laut Angaben der Agentur für Arbeit sogar um 22,9 Prozent. 4065 Langzeitarbeitslose (länger als ein Jahr arbeitslos, länger als 18 Monate im Leistungsbezug) weist die Statistik mittlerweile für Mülheim aus. So viele gab es laut Auswertung in der Zeit zwischen 2008 und 2021 noch nie. Ende 2019 waren noch 1120 Mülheimer weniger davon betroffen.
Langzeitarbeitslosigkeit in Mülheim verhärtet sich immer mehr
Eine enorme Zahl, hinter die Agentur-Chef Koch im Gespräch wiederholt ein Ausrufezeichen setzt. „Die Langzeitarbeitslosigkeit verhärtet sich immer mehr, die Menschen werden immer mehr abgeschnitten“, stellt er gesellschaftspolitisch eine Verschärfung der Lage fest. In einem Atemzug verweist er aber auch darauf, dass mehr als zwei von drei Arbeitslosen keine abgeschlossene Berufsausbildung haben. Ein Manko, das neben vielen anderen Vermittlungshemmnissen dagegen spreche, die betroffene Klientel erfolgreich in Jobs zu vermitteln.
Insbesondere das Mülheimer Jobcenter ist hier gefordert, mehr als 90 Prozent der Langzeitarbeitslosen sind Empfänger der Hartz-IV-Grundsicherung. „Es wird ein dickes Brett sein“, sagt Oliver Vrabec, neuer Chef der im Umbau befindlichen Behörde. Er sieht es wie Koch: Es werde „zunehmend schwerer“, Langzeitarbeitslose an den ersten Arbeitsmarkt heranzuführen. Nicht gleich jeder bringe etwa die Voraussetzungen mit, sich für einen Job als Pflegekraft zu qualifizieren.
Arbeitsmarktinstrumente liefen im zweiten Corona-Jahr auf Sparflamme
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Qualifizierungs- und andere arbeitsmarktpolitische Maßnahmen liefen – Vrabec macht dafür die Corona-Pandemie verantwortlich – auf Sparflamme: Gut ein Drittel weniger Ein-Euro-Jobs oder Gründerzuschüsse gab es, ebenso rückläufig waren die Teilnehmerzahlen an Eingliederungsmaßnahmen (-12,4 Prozent), an beruflicher Weiterbildung (-10,5 Prozent) und anderen arbeitsmarktpolitischen Projekten. Auch das Teilhabechancengesetz hat bei Weitem noch nicht die Erwartungen erfüllt. Nur 53 solcher Arbeitsstellen für schwer vermittelbare Arbeitslose konnte das Jobcenter im Vorjahr neu einrichten. „Deutlich weniger als prognostiziert“, bedauert Vrabec und verspricht verstärkte Anstrengungen für 2022.
Dennoch ist Vrabec nicht unzufrieden mit 2021. Insbesondere sei es gelungen, den Bestand an Leistungsberechtigten, Erwerbsfähigen und Bedarfsgemeinschaften deutlich zu senken. „Nur“ 19.670 Mülheimerinnen und Mülheimer Ende September 2020 in der Grundsicherung – bessere Zahlen gab es seit 2015 nicht mehr. Noch stärker ist die Zahl der Bedarfsgemeinschaften gesunken. 9336 Haushalte in der Grundsicherung – weniger gab es zuletzt im September 2013.
Leiter des Mülheimer Jobcenters: „Wahnsinnig gutes Ergebnis trotz Pandemie“
Von einem „wahnsinnig guten Ergebnis trotz Pandemie“ spricht Vrabec gar. Der Arbeitsmarkt sei robuster als gedacht, man habe eine Vielzahl an Menschen in Arbeit bringen können und habe gleichzeitig keinen übermäßig großen Zugang an Klienten gehabt.
17 Millionen Euro stehen dem Jobcenter auch 2022 zur Verfügung, um Menschen zu helfen, wieder Tritt zu fassen am Arbeitsmarkt. Es sind trotz Corona-Krise auch wieder vermehrt Stellen vakant – können aber laut Agentur für Arbeit im Schnitt erst nach fast einem halben Jahr besetzt werden. Das hat laut Agentur-Geschäftsführer Koch einen Grund: Zwischen Angebot und Nachfrage tue sich ein riesiges Delta auf. Gesucht würden zu 80 Prozent Fachkräfte, Spezialisten und Experten; entsprechende Qualifikationen fehlten den meisten Arbeitslosen. Der Fachkräftemangel habe sich ausgewachsen, sei „fast in allen Branchen angekommen“, so Koch.
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Gegensteuern ist angesagt. Mit den drei Millionen Euro, die die Agentur für Arbeit in Weiterbildungen investiere, sei es längst nicht getan. „Wir müssen mehr tun“, sagt Koch. Es gelte den Fokus noch viel mehr auch darauf zu richten, Berufstätige weiterzubilden, damit sie bei technischen Veränderungen Schritt halten könnten. Schließlich stellt die Agentur auch fest, dass durch Digitalisierung und technischen Fortschritt die Zahl der Jobs wächst, die möglicherweise in Zukunft wegfallen könnten. Für 34,6 Prozent der Beschäftigten in Mülheim sei dies mit hoher Wahrscheinlichkeit festzustellen, heißt es.
Ausländer-Arbeitslosigkeit steigt um 10,4 Prozent
Die Zahl der erwerbsfähigen Ausländer in Arbeitslosigkeit hat einen neuen Höchststand erreicht. Noch einmal stieg deren Zahl um 10,4 Prozent auf nun 3154 Personen. Damit sind fast 43 Prozent der Arbeitslosen Migranten.
Ein positives Zeichen gibt es aber doch: Schaut man auf die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse, hat hier die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer zugenommen – um 1,6 Prozent auf 7159.
Zurück zum Mangel an Fachkräften. Es braucht laut Koch „gezielte Einwanderung“, um den Bedarf zu decken. Wie in den 1990er-Jahren im IT-Bereich („Green Card“) seien gezielte Anwerbeaktionen nötig, verweist der Agentur-Chef auf entsprechende, quer über den Globus verteilte Initiativen der Bundesagentur. Deutschland, aber im Kleinen auch Mülheim würden im Kampf um Fachkräfte gefordert sein, ihre Attraktivität für potenzielle Zuwanderer unter Beweis zu stellen. Koch sieht „einen harten Wettbewerb um Talente“ auch auf Städte zukommen.
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