Mülheim. Das Urteil über den Polizeieinsatz am Mülheimer AZ vor zwei Jahren ist revidiert. Doch der Prozess hinterlässt großen Unmut und viele Fragen.
Am Ende muss die Richterin am Duisburger Landgericht gleich mehrfach klarstellen: „Das ist hier kein Theater.“ Manche Besucher verlassen aufgebracht, manche desillusioniert den Saal. Die Unabhängigkeit der Justiz hat für sie erneut Schaden genommen. Denn am Montagnachmittag hatte diese erklärt, dass der gewaltsame Einsatz der Mülheimer Polizei gegen eine Mitarbeiterin des Autonomen Zentrums (AZ) an der Auerstraße im August 2019 doch rechtmäßig gewesen sei. Denn diese soll einen Polizeipraktikanten zuvor „geschubst“ haben.
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Ein Schubser legitimiert die gewaltsamen Maßnahmen der Polizei
So jedenfalls behauptete es der Praktikant selbst, der nach eigenen Angaben den „Schubser“ unter seiner Weste kaum gespürt haben will – einen Augenzeugen für diese Tat gab es nicht in dem undurchsichtigen Einsatz, der in Gewalt gegen die Mitarbeitenden eskalierte. Diese ist hingegen dokumentiert: Platzwunden, Schürfwunden, Prellungen, blaue Flecken von den „Maßnahmen unter Zwang“ gegen zwei AZler, die nicht einmal Zeugen für den eigentlichen Einsatzgrund waren. Denn ein AZ-Gast hatte der Polizei angegeben, angegriffen worden zu sein, allerdings nicht von den Mitarbeitenden. Nun aber gilt eine als „Täterin“, nachdem sie das Amtsgericht in Mülheim im vergangenen Jahr sogar freigesprochen hatte.
Das Landgericht schenkte dem Polizeipraktikanten alleinigen Glauben und relativierte dafür die Aussage eines weiteren Zeugen, der gesehen haben will, wie dieser die AZ-Mitarbeiterin zu Boden geschubst habe. Die Richterin war jedoch der Ansicht, der Zeuge könnte nur nicht gesehen haben, dass die Beklagte zuerst geschubst habe. Und verurteilte die Frau zu 90 Tagessätzen à 10 Euro – die Mindeststrafe für einen „tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte“ nach § 114 StGB. Die aber reicht aus, um die anschließende Gewalt durch Polizisten zu legitimieren.
2020 waren sich Richterin, Verteidigung und Staatsanwaltschaft noch einig: Freispruch
Für viele Beobachter kam diese Wende im Prozess überraschend. Denn bis zum Revisionsprozess, der vor 14 Tagen begann, hatte der Schubser im vergangenen Jahr vor dem Mülheimer Amtsgericht nicht einmal Erwähnung gefunden. Vielmehr ging es damals allein um die Frage, ob die Polizei unter Zwang die Identität der Mitarbeiter, die als Zeugen befragt wurden, überprüfen durfte.
Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Richterin waren sich 2020 nach einem sechsstündigen Prozess einig: Die Maßnahme war rechtswidrig und somit wurde die Klage der Polizei gegen die AZler wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte abgewiesen.
Polizei-Straftaten kommen in den seltensten Fällen vor Gericht
Doch damit drohte umgekehrt eine Anzeige gegen die Polizisten wegen Körperverletzung. Dass Beamte dann Gegenanzeigen stellen, sei gängige Praxis, erklärte hinter den Kulissen ein Beobachter des Prozesses, der bereits für den Opferverband „Victim Veto“ arbeitete und seit vielen Jahren solche Verfahren begleitet hat. Dies führe dazu, dass zunächst nicht gegen die Polizisten, sondern den Angezeigten ermittelt wird. War dann der Einsatz der Polizei durch falsches Verhalten des Angezeigten legitim, ist der beschuldigte Polizist entlastet.
In den seltensten Fällen kommen Polizei-Straftaten vor Gericht, und davon werden nicht einmal die Hälfte verurteilt. 2018 etwa gab es laut Polizeistatistik 1559 Fälle, 49 landeten vor Gericht, 20 wurden verurteilt. Dies, so beurteilte es eine Studie der Ruhr-Universität Bochum, liege nicht allein daran, dass die Anzeigen unbegründet wären. Doch gilt dies auch für den AZ-Fall?
Viele Widersprüche jedenfalls prägten dieses Verfahren. Damals etwa konnte der den Einsatz leitende Polizist kaum die rechtliche Grundlage für die Identitätsfeststellung von Zeugen benennen. Im neuen Prozess aber betete dieser die Paragrafen für den „tätlichen Angriff“ gegen den Praktikanten vor.
Aussagen des Polizeipraktikanten verändern den Fall und belasten die Mitarbeiterin
Nun sei es damals angeblich gar nicht darum gegangen, die Identität der „Herrschaften“ – wie der Polizist die AZ-Mitarbeiter mehrfach bezeichnete – festzustellen. Obwohl es auch der Polizeipraktikant damals in einem Aktenvermerk noch so beschrieben haben soll. Stattdessen gab dieser an, er dürfe als Mann ja keine Frau untersuchen. Er habe daher nur verhindern wollen, dass die Mitarbeiterin in die Maßnahmen gegen den zweiten, bereits gewaltsam fixierten AZ-Mitarbeiter eingreifen würde.
Haben sich der Polizist und der Polizeipraktikant – dessen Tutor er damals war – nachträglich über rechtliche Normen und Verhalten besprochen? Der Praktikant räumte dies freimütig ein, der Polizist wollte sich zunächst daran nicht erinnern.
Warum hatte man den Übergriff auf den Gast kaum mehr verfolgt und sich auf die Festnahme der Mitarbeiter konzentriert? Wie konnte es zu der Eskalation kommen? Hatten die Polizisten bereits Vorbehalte gegen die als „staatskritisch“ und „links“ bezeichneten AZler? Den Beamten ist dies im Vorfeld kommuniziert worden, berichtete der Praktikant, denen „müsse man die Maßnahmen deshalb doppelt und dreifach erklären“. Verfolgt wurden diese Hintergründe vom Landgericht nicht.
Verteidigung mahnt: Es ist die Aufgabe der Justiz, die Exekutive kritisch zu überprüfen
Für die Verteidigung zeigte sich an den abgesprochenen wie widersprüchlichen Aussagen der Beamten der Versuch, das Verfahren zu ihren Gunsten zu lenken. Es sei „Aufgabe der Justiz, die Arbeit der Exekutive kritisch zu überprüfen“, sagte die Anwältin und verwies auf einen Tweet der Polizei Essen. Dort habe es nach dem ersten Urteil geheißen: „Wir respektieren die Entscheidung des Amtsgerichts und warten nun auf die Zusendung der Urteilsbegründung, welche wir sorgfältig prüfen werden.“
Diese Aussage ist für die Verteidigerin symptomatisch für die offenbar gekränkte Ehre, denn „die Polizei überprüft als Exekutive keine Urteile. Welche Rechtsgrundlage hat es der Polizei ermöglicht, die schriftlichen Urteilsgründe zu erhalten, um diese auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen?“
Für die Angeklagte war der erneute Prozess sichtbar eine Belastung: „Der Polizeiübergriff, den ich erlebt habe, wird bis heute fortgesetzt. Ich muss mich immer noch verteidigen gegen die Gewalt, die ich erlebt habe“, schilderte sie dem Gericht, „es ist eine Täter-Opfer-Umkehr.“ Gegen das Urteil erwägt die Mitarbeiterin nun Revision.