Mülheim. Überraschend bringt die Staatsanwaltschaft einen Mülheimer Polizeipraktikanten ins Spiel. Der behauptet, beim Einsatz „geschubst“ worden zu sein.
Die Überraschung im Gerichtssaal kann man auch unter den Masken spüren: Denn im Prozess gegen eine Mitarbeiterin des AZ wegen angeblichen Widerstands gegen die Polizei bei einem Einsatz im Juni 2019 tritt am Dienstagmittag ein neuer, belastender Zeuge auf. Ein Polizeipraktikant gibt an, die AZ-Mitarbeiterin habe ihn „geschubst“. Nun bekommt der zuvor glasklar scheinende Fall eine unvermutete Wendung.
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Freispruch im ersten Prozess: Gewalt der Mülheimer Polizei war unrechtmäßig
Denn zum Prozess im vergangenen August 2020 waren sich Richterin, Verteidigung und Staatsanwaltschaft so einig wie wohl selten: Zwei Mitarbeiter des Autonomen Zentrums seien des Widerstands gegen die Polizei freizusprechen. Bei dem Einsatz im Juni 2019 ermittelte die Polizei wegen angeblicher schwerer Körperverletzung: Ein Gast des AZ hatte sie gerufen, weil ihm jemand angeblich Pfefferspray in den Nacken gesprüht und er einen Faustschlag abbekommen habe.
Die Polizei hatte bei der Ankunft mit Mitarbeitern im AZ gesprochen, die aber angegeben hatten, den Fall gar nicht beobachtet zu haben. Dennoch wollte man diese „als Zeugen“ vernehmen, einen dritten beschuldigte man während des Gesprächs sogar. Angeblich habe dieser wie in der Beschreibung des Geschädigten ausgesehen. Die Situation eskalierte, als die Polizei mit erheblicher Gewalt zur Identitätsfeststellung gegen die Zeugen vorging.
Die Polizei habe dabei unrechtmäßig Gewalt angewendet, um die Identität der Mitarbeiter festzustellen, befand das Mülheimer Amtsgericht in erster Instanz. Denn diese seien nur „Zeugen“ gewesen, wie mehrere Polizeibeamte bei der Vernehmung im damaligen Prozess aussagten. Nur bei „Beschuldigten“ aber kann die Polizei mit Gewalt die Identität feststellen.
Überraschende Belastung durch einen „Polizeipraktikanten“
Damit schien die Akte geschlossen zu sein – die ursprünglich Beschuldigten kündigten an, nun umgekehrt Anzeige wegen Polizeigewalt zu erstatten. Ob diese Ankündigung dazu führte, dass die Staatsanwaltschaft überraschend doch in Berufung ging, ist unklar.
Doch zum Berufungs-Prozess am Dienstagmittag wechselte die Strategie von Polizei und Staatsanwaltschaft. Nun sagte ein „Polizeipraktikant“ aus, die beschuldigte AZ-Mitarbeiterin habe ihn „geschubst“, als er sich ihr „näherte“. Dabei habe er nicht ihre Identität feststellen wollen, denn man habe ja längst „einen Beschuldigten“ – einen Mann mit Dreadlocks – ermittelt. Sondern er habe diese „in ein Gespräch verwickeln“ wollen, damit diese nicht die Arbeit der Polizei – diese hatte den AZ-Mitarbeiter bereits gewaltsam zu Boden gezwungen – störe.
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Nach Aussage des Polizeipraktikanten, der vor einem Jahr nicht vernommen wurde, habe ihm der Schubser nichts ausgemacht. „Es fühlte sich so an, als wollte sie mich von dem Gelände wegdrängen“, formulierte dieser. Doch nun habe die „Zeugin“ für ihn als „Beschuldigte einer Ordnungswidrigkeit“ gegolten.
Vorwurf der Ordnungswidrigkeit soll gewaltsame Handlung der Polizei legitimieren
Schenkte das Gericht dieser bislang unbestätigten Aussage des Polizeipraktikanten Glauben, hätten die Beamten anschließend das Recht gehabt, die Identität der AZ-Mitarbeiterin gewaltsam festzustellen. Diese entscheidende Beschuldigung einer angeblich begangenen „Ordnungswidrigkeit“ hatte jedoch im ursprünglichen Prozess vor einem Jahr zu keinem Zeitpunkt eine Erwähnung gefunden. Weder bei der Vernehmung der beteiligten Beamten noch der weiteren Zeugen.
Nun aber sprach auch der wiederholt vernommene und beim Einsatz federführende Polizist plötzlich von einer „Ordnungswidrigkeit“. Jener Polizist, der in der Verhandlung an Mülheims Amtsgericht kaum die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Identitätsfeststellung unter Zwang zitieren konnte.
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Widersprüche der Zeugen: Haben sich die Polizisten vorher abgesprochen?
Hatten sich der Polizeipraktikant und der Polizist zuvor über eine Ordnungswidrigkeit abgesprochen?, mutmaßte die Verteidigung. Zumindest der Praktikant berichtete freimütig über Gespräche vor der Verhandlung. Der Beamte hingegen sagte zunächst aus, er habe mit diesem „eine Ewigkeit nicht gesprochen“, um bei der Konfrontation mit der anderen Aussage einräumen zu müssen, das sei „vielleicht ein Jahr“ her.
Mehrere Widersprüche brachte der Prozess zutage: So gab der angeblich angegriffene AZ-Gast an, eine Frau habe ihm das Spray verabreicht, ein blonder Mann geschlagen. Vor zwei Jahren hatte dieser angegeben, er habe den Sprüher nicht sehen können und ein dunkelhaariger Mann mit Dreadlocks habe ihn geschlagen. Auch der Sachverhalt, ob man die AZ-Mitarbeiter als Zeugen oder „als potenzielle Täter“ – wie es der Praktikant ausdrückte – nach ihrem Ausweis befragt habe, wurde von den vier vernommenen Beamten unterschiedlich beantwortet.
Beschuldigte AZ-Mitarbeiterin bricht ihr Schweigen
172 Verfahren gegen Polizisten, nur eins ging vor Gericht
Gegenanzeigen bei Anzeigen wegen Polizeigewalt sind häufig der Fall. In solchen Fällen wird das Verfahren gegen die Polizisten zurückgestellt. Ist die Gegenanzeige erfolgreich, wird das Verhalten des Polizisten als rechtmäßig ausgewiesen.
2019 gab es bei der Staatsanwaltschaft Duisburg 172 Verfahren gegen Polizeibeamte wegen Körperverletzung, Nötigung und Strafvereitelung. Nur eins ging vor Gericht.
Der Prozess gegen die AZ-Mitarbeiterin soll am Montag, 16. August, um 13 Uhr vor dem Landgericht Duisburg fortgesetzt werden.
Auch die Beschuldigte brach angesichts mancher nun anderslautender und widersprüchlicher Aussagen ihr bisheriges Schweigen. Ihrer Schilderung zufolge hatte sie sich zwar, „geschockt“ vom Einsatz der Polizei gegen den anderen Mitarbeiter, zu diesem hinuntergebeugt, aber nicht versucht, die Polizei zu behindern. Vielmehr habe die Polizei verlangt, die Mitarbeiter sollten die Gäste „rausschicken“ zur Durchsuchung. Erst als die Mitarbeiter dies nicht wollten, habe man ihnen unterbreitet, dass die Straftat dann an den Mitarbeitern „hängen bliebe“.
Ohne Ankündigung hätten die Beamten dann den Kollegen zu Boden gebracht. Auch in ihrem Fall hätte sie sich nicht gewehrt, sondern sei „aus Angst, weil ich vorher gesehen habe, was ,einpacken’ heißt“, mit erhobenen Händen vor den Beamten zurückgewichen. Diese hätten sie dann auf den Boden gedrückt, in ihrem Nacken gekniet und ihr Handschellen angelegt.
Als sie im Polizeiwagen nach ihrem Portemonnaie mit dem Ausweis gesucht habe, habe man sie mit dem Kopf gegen die Scheibe gedrückt, fixiert und die Handschellen enger gestellt. Auf der Wache habe sie sich bis auf Hemd und Unterhose ausziehen müssen – „das war demütigend“, schildert sie. Am nächsten Tag sei sie mit Prellungen und blauen Flecken entlassen worden.
Übrigens: Eine Aufklärung der schweren Körperverletzung hatte die Polizei an diesem Abend nicht weiterverfolgt. Eine Befragung der übrigen AZ-Gäste, die ja ebenfalls als Täter infrage gekommen wären, führte diese nicht durch. Und auch eine Ermittlung wegen Polizeigewalt gibt es bis heute nicht. (siehe Info-Kasten). Der Prozess ist mit einer weiteren Vernehmung vertagt worden.