Essen/Mülheim. Das Strafverfahren gegen einen Mülheimer Polizisten des Essener Polizeipräsidiums zeigt, wie Beamte die Justiz zu täuschen versuchen.

Anfang Juni hat das Amtsgericht Mülheim einen 31 Jahre alten Polizeibeamten der Mülheimer Wache wegen Körperverletzung im Amt zu neun Monaten Haft mit Bewährung verurteilt. Er hatte einem gefesselten und unschuldigen Mann mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Über das Urteil ist berichtet worden. Wie es aber zu dem Verfahren gegen den Beamten kam, zeigt exemplarisch, wie gefährlich der übertriebene Korpsgeist der Polizisten sein kann. Es ist die Geschichte einer Lüge in Uniform, deren Urheber bereit waren, einen Unschuldigen zu opfern.

Freitag, 11. Januar 2019: Gegen 21.10 Uhr erreicht die Mülheimer Polizeiwache die Nachricht von häuslicher Gewalt in der Mülheimer Innenstadt. Als der Streifenwagen Gruga 14/45 mit dem damals 28 Jahre alten Beamten und seiner 24 Jahre alten Kollegin vor Ort eintrifft, begegnen die beiden dem Opfer am Rettungswagen. Das Gesicht der zierlichen 23-Jährigen, 1,60 m groß und 48 Kilo schwer, ist blutüberströmt.

Polizist schlägt mit der Faust zu

Die Beamten stürmen zur Wohnung, treffen dort nur die weinende Mutter und den Vater der jungen Frau an. Der Polizist legt dem gebürtigen Kosovaren, 54 Jahre alt, Handfesseln an, versetzt ihm einen Faustschlag ins Gesicht.

Um 21.48 Uhr, keine Stunde nach Einsatzbeginn, schreibt der Polizist eine Anzeige gegen den Beschuldigten. Gefährliche Körperverletzung, Bedrohung und Widerstand gegen Polizeibeamte wirft er ihm vor. Der 54-Jährige habe die Beamten bedroht und sei „mittels einer dynamischen Kontaktaufnahme im Gesicht“ zu Boden gebracht worden, schreibt er. Gemeint ist der Faustschlag gegen den Kopf des Mannes. Erst danach, lügt der Polizist, seien ihm Handfesseln angelegt worden.

Vater und Sohn als Schläger dargestellt

Der Beamte schildert weiter, dass vor allem der 54-Jährige und dessen Sohn mehrfach auf die 23-Jährige „eingeschlagen und getreten“ hätten. Mit nur einem Satz erwähnt er, dass der Beschuldigte dies bestreite.

Tatsächlich gibt es zu diesem Zeitpunkt schon eine ganz andere Schilderung. Einer Polizistin hatte der 54-Jährige geschildert, dass sein 18 Jahre alter Sohn auf die Schwester eingeschlagen habe. Als seine Tochter ein Küchenmesser ergriff, habe er ihr möglicherweise eine Ohrfeige verpasst, damit es zu keinem Blutbad komme. Die kurz danach im Krankenhaus befragte Tochter schilderte das genauso. Der Sohn war bereits geflohen.

Empörtes Opfer zeigt Polizisten an

Samstag, 12. Januar 2019, etwa zwölf Stunden nach dem Einsatz: Der 54-Jährige, der eine Nacht im Polizeigewahrsam verbringen musste, geht in Mülheim zur Polizeiwache. Er ist empört und will Anzeige gegen den Polizisten erstatten. Sechs Beamte seien in der Wohnung gewesen, sagt er, fast alle hätten sich ordentlich benommen. Nur einer nicht. Der habe ihn grundlos gefesselt und dann mehrfach mit der Faust ins Gesicht geschlagen.

Ein Strafverfahren gegen den Beamten wird eingeleitet. Es ist aus Sicht des Opfers kein faires Verfahren. Denn der Polizist und seine Streifenpartnerin stehen per WhatsApp in Kontakt. Sie schickt ihm sogar die Anzeige des 54-Jährigen zu, bevor er seine eigene Stellungnahme formuliert. Und darin lügt der Polizist erneut: Er habe nicht den gefesselten Mann geschlagen, sondern nur dessen aggressives Auftreten abgewehrt. Seine Kollegin bestätigt dies. Auch sie lügt. Beide nehmen in Kauf, dass ein Unschuldiger verurteilt wird, damit der Polizist nicht wegen der feigen Schläge verurteilt wird.

Staatsanwaltschaft glaubt den Polizisten

Ergebnis: Die Staatsanwaltschaft Duisburg stellt das Strafverfahren gegen den Polizisten ein, glaubt ihm und seiner Kollegin. Dann erhebt Staatsanwalt Thomas Tupait Anklage gegen den mittlerweile 55 Jahre alten Mann aus dem Kosovo, der seit 1992 in Deutschland lebt, nicht vorbestraft ist und als Busfahrer arbeitet. Falsche Verdächtigung des Polizisten wirft er ihm vor.

Am 31. Juli 2020 kommt es vor dem Amtsgericht Mülheim zur Verhandlung gegen den 55-Jährigen. Er bestreitet weiter. Und sagt, der Polizist habe ihm grundlos ins Gesicht geschlagen. Die Streifenpartnerin des Beamten, sie ist Zeugin, widerspricht ihm und beschreibt den 55 Jahre alten Mann aus dem Kosovo als Aggressor.

Polizistin belastet ihren Kollegen

Dann ruft Richter Alexander Kley die nächste Polizistin auf. Die 22-Jährige war auch vor Ort, gehört aber zu einer anderen Mülheimer Dienstgruppe. Zur Überraschung aller im Saal sagt sie aus, ihr Kollege habe den Mann geschlagen, als der bereits gefesselt war. Wörtlich: „Der Angeklagte war die ganze Zeit ruhig und kooperativ. Meiner Meinung nach gab es keinen Grund für den Polizisten, ihn zu schlagen.“

Kley ruft erneut die Streifenpartnerin des Beamten auf. Jetzt räumt auch diese ein, dass der Mann erst nach der Fesselung geschlagen wurde. Der Polizist selbst verweigert die Aussage. Richter Kley spricht den 55-Jährigen frei. Er stellt fest: „Grundlos hat der Polizeibeamte mehrfach den gefesselten Angeklagten geschlagen.“

Dienstgruppe mit rechtsextremen Chats beteiligt

Die Staatsanwaltschaft nimmt die Ermittlungen gegen den Beamten im September 2020 wieder auf. Zeitgleich wird bekannt, dass in der Mülheimer Dienstgruppe „Anton“ mutmaßlich rechtsextreme Chats unter den Beamten kursieren. Der 31-Jährige, der in Essen wohnt, zählt zu den Beschuldigten.

Glück für die Ermittler: Die wegen der Chats beschlagnahmten Handys des Beamten dienen jetzt auch als Beweis im "Faustschlag-Verfahren". Sie entdecken nicht nur die von seiner Kollegin an ihn übermittelte Strafanzeige des 54-Jährigen. Die Kollegin entschuldigt sich per WhatsApp auch bei ihm, dass sie vor Gericht umgefallen sei. Zuvor hatte er schon seiner Freundin geschrieben, er hoffe, dass die ihn belastende Polizistin „still hält“.

Urteil wegen Strafvereitelung im Amt

Damit war klar, dass die Beamten gelogen hatten. Die Polizistin bekam inzwischen wegen Strafvereitelung im Amt einen Strafbefehl über sieben Monate Haft mit Bewährung.

Die Chats zeigen, wie massiv Kollegen auf die couragierte Polizistin eingewirkt hatten. „Zurückziehen kommt für dich nicht in Frage?", schreibt ihr ein Beamter. Und droht mit der künftigen Zusammenarbeit: "Ich mein nur wegen Wachklima und sowas.“ Dem zuschlagenden und lügenden Beamten beschreibt er die Furcht der Belastungszeugin: „Sie hat Angst, dass du sie abstichst.“

Polizist gesteht illegale Schläge

Die Polizistin, die den Beamten belastet hatte, ist zu einer anderen Dienststelle gewechselt. Der Polizist hat am 7. Juni 2021 vor Amtsrichter Andreas Kunze in Mülheim eingeräumt, den 54-Jährigen geschlagen zu haben. Er gab sich reumütig, bekam neun Monate Haft mit Bewährung.

Damit verliert er nicht automatisch seinen Beamtenjob. Sein Verteidiger Volker Schröder hofft, dass der Mandant nicht disziplinarrechtlich aus dem Beamtenverhältnis entfernt wird. Denn dieser sei nicht rechtsradikal und bedauere die Chats als „große Gedankenlosigkeit“, sagt der Anwalt.