Mülheim. Eskalation im AZ: Warum das Mülheimer Amtsgericht den Widerstand der AZ-Mitarbeiter nur als Reaktion auf falsches Verhalten der Polizei sieht.
Die Polizei hat bei ihrem Einsatz am Autonomen Zentrum im Juni vergangenen Jahres zu Unrecht Gewalt angewendet. Erst nach sechs Stunden Zeugenvernehmung von Beobachtern und verantwortlichen Polizisten sah es das Mülheimer Amtsgericht als erwiesen an, dass die Beamten kein Recht hatten, die Ausweise der AZ-Mitarbeiter gewaltsam durch zu Boden werfen und fixieren einzuholen. Dabei belastete überraschend auch der Auslöser des Einsatzes – ein verärgerter AZ-Gast – die Beamten.
Zumindest eine Mitarbeiterin wurde sofort freigesprochen, der zweite Beschuldigte muss sich im September noch wegen mutmaßlicher Beleidigung und Spuckens verantworten. Der Ausgang des wendungsreichen Prozesses mit zahlreichen Gegenanträgen der Verteidigung war für manchen Beobachter jedoch durchaus überraschend. Denn angeklagt waren nicht Beamte sondern die Mitarbeiter: Polizei und Staatsanwaltschaft hatten den Mitarbeitern Widerstand, Beleidigung und Körperverletzung vorgeworfen.
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So schildern die Zeugen das Ereignis im Mülheimer AZ
So soll es sich anhand übereinstimmender Zeugenaussagen am Morgen des 8. Juni 2019 abgespielt haben: Ein AZ-Gast gab bei der Polizei an, er sei im Autonomen Zentrum mit Pfefferspray und einem Faustschlag angegriffen worden. Der Täter sei etwa Mitte 20 gewesen, habe ein dunkles Hemd getragen, braune Haare, die Seiten kurz geschnitten, die langen Haare zur Seite gekämmt.
Vor Ort trafen die Polizisten am Tor vier Menschen aus dem AZ an, darunter die beiden, später angeklagten Mitarbeiter – „Frau L.“ und „Herr O.“. Sie gaben an, den Vorfall mitbekommen zu haben. Erst sei das Gespräch sehr freundlich verlaufen, bestätigten die vernommenen Zeugen der Polizei und des AZ.
Situation eskaliert als Polizei Ausweise mit Zwang einholt
Erst als die Polizei nach Ausweisen fragte – denn in ihren Augen handelte es sich um Zeugen – weigerten sich die Mitarbeiter. Die Beamten belehrten diese zunächst, sie seien befugt, die Ausweise mit Zwang einzuziehen, und gingen dann körperlich gegen sie vor, drückten Herrn O. zu Boden. Die Situation eskalierte daraufhin: „Einer kniete in seiner Kniekehle, der andere in seinem Rücken, der dritte an seinem Kopf“, schilderte der AZ-Gast drastisch. Ein vierter habe gerufen: „Es reicht, es reicht.“
Auch die Mitarbeiterin L. wurde zu Boden geworfen und fixiert. Das sei notwendig gewesen, schilderte die vernommene Beamtin vage, weil diese „einen Schubser in meine Richtung“ versucht hätte, der sie aber nicht zu Fall gebracht habe.
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Polizeibeamter: „Er lag so ein bisschen in seinem Blut“
Anschließend brachte man Herrn O. in Handschellen zum Polizeiwagen. Dort habe der für den Einsatz verantwortliche Polizist „einen Kopf- und Schulterstoß verspürt“ und einen „Fluchtversuch vermutet“. Um diese zu verhindern, habe er den Mann mit der Faust über den Kopf geschlagen. „Er lag so ein bisschen in seinem Blut“, schilderte der Beamte die verursachte Platzwunde am Kopf. Dann habe man ihm aufgeholfen und den Rettungswagen gerufen.
Spätestens da jedoch platzte der Verteidigung der Kragen: „Wie Sie das schildern – finden Sie das lustig? Das ist unangemessen“, sah der Verteidiger darin auch ein Fehlverhalten gegenüber dem schutzbefohlenen Gefesselten. Es war aber vor allem der betont lässige, laute Auftritt des verantwortlichen Polizeibeamten im Gerichtssaal, der auch später für Auseinandersetzung sorgte. So ahmte dieser etwa die Rufe der in Gewahrsam genommenen Mitarbeiter nach: „Ich brauche einen Notarzt, ich brauche einen Notarzt.“ Nach Ansicht der Verteidigung ein bewusstes Lächerlich-Machen.
Zweifel an Aussagen der Mülheimer Polizisten
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Zweifel hatten die Verteidiger ebenso an den verschiedenen Aussagen der Polizeizeugen, und verwiesen zum einen auf Unstimmigkeiten zwischen den Beschreibungen des Täters durch den AZ-Gast, im Protokoll und der Beamten. Letztere sprachen von einem „Mann mit Dreadlocks“. Die Beschreibung aber tauche in den Aktenvermerken nicht auf. Zum anderen soll der Mitarbeiter O. den Polizisten am Hemd bespuckt haben. Doch der Polizist hatte das Hemd – ein mögliches Beweisstück – bereits weggeworfen, ohne Fotos davon zu machen. Auch das angebliche Beißen von Frau L. bei der ebenfalls erzwungenen Blutabnahme ist offenbar nicht protokolliert.
Sind die Aussagen wahrheitsgemäß? Haben sich die Polizisten in ihren Aussagen mündlich und anhand ihrer Berichte abgesprochen, womöglich, um sich gegenseitig zu stützen? Das zumindest deuteten die Verteidiger von L. und O, immer wieder an. Es habe keine Zeugenvernehmung der Beamten gegeben, obwohl sie die Anzeige gegen die AZ-Mitarbeiter erstattet haben – „ist das ein übliches Vorgehen?“, stellte die Verteidigerin in Frage.
Gericht bewahrte seine Neutralität
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Zahlreiche Anträge der Verteidigung auf Einstellung des Verfahrens wegen mangelnder Neutralität der Beamten, auf psychologische Gutachten, auf Wortlautprotokolle der betroffenen Polizeizeugen lehnte das Gericht ab. Und bewies damit auch, sich nicht gegen die Polizisten einnehmen zu lassen.
Am Ende der sechsstündigen Verhandlung aber griff ein einziges Argument: Die AZ-Mitarbeiter seien nur als Zeugen um den Ausweis gebeten worden, sie waren nicht beschuldigt. In diesem Fall aber sei die Polizei nicht berechtigt gewesen, die Ausweise mit Gewalt einzufordern. Der Widerstand und die körperlichen Angriffe der Mitarbeiter seien damit eine Reaktion auf den unrechtmäßigen Zugriff der Beamten.
AZ froh über den Freispruch und sieht sich bestätigt
Der Freispruch der AZ-Mitarbeiterin am Mülheimer Amtsgericht dürfte auch ein Paukenschlag mit Widerhall in der Stadt werden. Denn mit der Anklage der Mitarbeiter geriet das Autonome Zentrum selbst unter Beschuss. Konservative und rechte Politiker von CDU bis BAMH versuchten dem linksalternativen Jugendort verschiedentlich den Geldhahn abzudrehen.
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„Respektlosigkeiten gegenüber Polizisten und Rettungskräften“, polterte damals etwa der BAMH. Das jetzige Urteil des Gerichts legt anderes, eine Rechtsverletzung durch die Beamten, nahe. Das AZ zeigte sich nach dem Urteil froh, dass der Makel nun von Zentrum genommen sei. Die Freigesprochene erwägt nun umgekehrt Anzeige zu stellen. In einem Schlusswort stellte sie vor Gericht fest: „Eskaliert wurde die Situation, weil ich und andere sich herausgenommen haben, auf die Unverhältnismäßigkeit aufmerksam zu machen. Dass wir hier als Angeklagte sitzen, ist der Preis, den wir dafür zahlen, das Verhalten der Polizei öffentlich kritisiert zu haben.“