Mülheim. Vor 60 Jahren wurde die Teilung Deutschlands mit dem Bau der Berliner Mauer zementiert. Mülheimer Zeitzeugen erinnern dabei auch an den Mauerfall.
Vor 60 Jahren wurde in Berlin eine Mauer gebaut, die die deutsche Teilung manifestierte. Die Schockwellen des 13. August 1961 erreichten Mülheim ebenso wie die Maueröffnung am 9. November 1989. 60 Jahre nach dem Mauerbau und 32 Jahre nach dem Mauerfall blicken Mülheimer Zeitzeugen auf diese Wegscheiden der deutschen Geschichte zurück.
Der aus Gera In Thüringen stammende Gastronom Jörg Thon (52) erinnert sich: „Die Mauer war ein historischer Fehler. Ich verbinde sie damit, dass die deutsch-deutsche Grenze, die ich zwischen Thüringen und Hessen erlebt habe, quer durch Dörfer gegangen ist und damit Familien voneinander getrennt hat.
Umso großartiger war das Glück des Mauerfalls, der friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung Deutschlands. Ich finde es schade, dass 30 Jahre später die Erinnerung an diesen Glücksmoment verblasst und es viel Frustration und Missverständnisse gibt. Wir sollten uns alle als Landsleute sehen und nicht mehr über Ossis und Wessis reden.“
„Die Mauer unmenschlich, weil sie Freunde und Verwandte voneinander getrennt hat“
Der 1946 in Berlin-Charlottenburg geborene Schauspieler und Regisseur Dean Luthmann sagt: „Die Mauer war für alle Deutschen ein Schock. Sie war unmenschlich, weil sie Freunde und Verwandte voneinander getrennt hat. Umso größer und unglaublicher war das Glück, als sie im November 1989 keine Bedeutung mehr hatte. Ich habe den 9. November 1989 in Berlin miterleben dürfen. Es war einfach unglaublich. Wildfremde Menschen lagen sich in den Armen. Die Menschen sind von Ost nach West und wieder von West nach Ost gegangen. Und die Grenzer konnten nichts machen. Leider sind nach der Wiedervereinigung von der Treuhandanstalt und von westdeutschen Unternehmern viele Sünden begangen worden, die ganze Existenzen in Ostdeutschland zerstört haben. Das hat im Osten Deutschlands viel Leid und Wut erzeugt.“
Der 1949 in Kleinopitz bei Dresden geborene Knut Binnewerg, Vorsitzender des Vereins Styrumer Bürgerbus und ehemaliger Bezirksbürgermeister, kam Ostern 1961 mit seiner Familie aus Sachsen nach Oberhausen, dann nach Bottrop und später nach Mülheim. „Meine Eltern haben sich damals zur Flucht entschlossen, weil mein Vater als selbstständiger Landwirt nicht in eine landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft eintreten wollte. Wir sind gerade noch rechtzeitig in den Westen gegangen. Denn nach dem Mauerbau wäre das für unsere Familie kaum noch möglich gewesen. Für uns war es der Weg in die Freiheit.
„Wir haben uns als Familie an der Ruhr schnell integriert“
Ich war damals Adenauer-Fan, ehe ich mich später für Willy Brandt begeisterte. Ich habe die Volksschule besucht und anschließend eine Lehre als Technischer Zeichner gemacht. Mein Vater fand Arbeit als Gärtner bei der Ruhrkohle AG.
Auch wenn wir anfangs ,als die von drüben, die den Lastenausgleich bekommen’, beargwöhnt wurden, haben wir uns als Familie an der Ruhr schnell integriert. Wir haben in unserer Familie immer politisch diskutiert und – als dies möglich war – auch Kontakt zu unseren Freunden und Verwandten in der DDR gehalten. Das hat uns später nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung sehr geholfen. Wir konnten mit den Menschen in meiner alten Heimat offen sprechen, ohne als arrogante Wessis beschimpft zu werden. Ich wusste von meinen Familienbesuchen in der DDR, dass sich dort viele Menschen einen Friedensvertrag und eine Wiedervereinigung wünschten.
„Für mich waren der Mauerfall und die Wiedervereinigung ein großer Glücksfall“
Den Mauerfall im November 1989 verfolgte ich als Lehrer an der Gemeinschaftshauptschule Dümpten stündlich am Radio und am Fernsehen. Heute tut es mir leid, dass ich mich damals nicht für eine Woche habe freistellen lassen, um die Ereignisse In Berlin selbst mitzuerleben. Für mich waren der Mauerfall und die Wiedervereinigung ein großer Glücksfall und beides empfinde ich bis heute als ein großes Phänomen der Weltgeschichte.“
Mülheims Doktor Jazz, Manfred Mons (80), hatte das große Glück, mit seiner Ruhr-River-Jazzband am 9. November 1989 in Dresden und in Ost-Berlin zu spielen, so dass er die Begeisterung des Mauerfalls unmittelbar miterlebt hat. Auch am Tag der Wiedervereinigung, dem 3. Oktober 1990, spielte er mit seiner Band In Berlin am Potsdamer Platz, am Palast der Republik und am Brandenburger Tor.
Auch interessant
Mülheimer Jazz-Musiker bemühte sich früh um Kontakte in die DDR
„Ich habe das große Glück, nicht nur grausame, sondern auch schöne Weltgeschichte miterlebt zu haben. Auch an den Mauerbau erinnere ich mich noch gut. Am 13. August 1961 besuchte ich meine Mutter an ihrem Kurort im Schwarzwald. Als ich vom Mauerbau erfuhr, habe ich sofort alles aufgesogen, was ich aus Zeitungen, Radio und Fernsehen erfahren konnte. Ich war schon damals politisch interessiert und mir war klar, dass der Mauerbau eine unmittelbare Folge des Zweiten Weltkrieges war.
Obwohl ich in der DDR keine Verwandten hatte, habe ich mich schon früh um Kontakte in die DDR bemüht. Dabei halfen mir der Jazz und familiäre Kontakte einer angeheirateten Verwandten. Ich kann mich an offene politische Diskussionen erinnern und auch daran, dass es aufgrund der Braunkohleheizungen hinter der Mauer ganz anders roch als vor der Mauer.
„Noch heute sind mir die Bilder aus dem Jahr 1961 im Gedächtnis“
Wenn ich Bekannte aus der DDR nach Mülheim einladen wollte, reagierten sie ausweichend, weil sie Angst vor staatlichen Repressionen hatten. Sicher wären sie gerne nach Westdeutschland gereist. Doch das war eben bis zum Mauerfall nicht möglich. Noch heute sind mir die Bilder aus dem Jahr 1961 im Gedächtnis: Menschen, die sich in letzter Sekunde abgeseilt haben oder über Stacheldrahtzäune von der Mauer gesprungen sind.
Heute wissen wir, dass die die Berliner Mauer niemals ohne die Sowjetunion gebaut worden wäre und dass sie, siehe Gorbatschow, auch nie ohne die Sowjetunion hätte fallen können. Beim Mauerbau wie beim Fall der Mauer ging es um Freiheit und Demokratie. Leider ist im Nachhinein vieles falsch gemacht worden. Man hat zu viele Betriebe im Osten plattgemacht, statt sie zu modernisieren. So haben viele Menschen ihre Arbeit verloren und ich kann verstehen, dass viele Menschen in Ostdeutschland darüber enttäuscht waren.
Auch interessant
„Im Vereinigungsprozess mussten zwangsläufig Fehler gemacht werden“
Dennoch können wir alle froh sein, dass es so gekommen ist, wie es gekommen ist. Denn eine andere Entwicklung wäre auf jeden Fall für alle Deutschen in West wie in Ost schlechter gewesen, auch wenn das viele heute nicht mehr wahrhaben wollen. Bei aller Kritik an den 1989 und 1990 handelnden Personen muss man sehen, dass es für die Wiedervereinigung kein Muster gab. Das war etwas völlig Neues. Deshalb mussten im Vereinigungsprozess zwangsläufig Fehler gemacht werden.“
Der ehemalige Mülheimer Geschichtslehrer, Stadtrat und Bundestagsabgeordnete Dieter Schloten (81) zog bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990 für die SPD ins Parlament ein. Inzwischen ist aus dem Mülheimer ein Wahl-Berliner geworden. Im Rückblick auf Mauerbau und Mauerfall erinnert er sich an folgende Episode: „Leistungskurs Geschichte im 12. Schuljahr, Frühjahr 1983, Unterrichtseinheit. Zum Abschluss der Unterrichtseinheit ,Das geteilte Deutschland’ fragt mich Schüler Thomas N.: ,Glauben Sie daran, dass die Berliner Mauer bald fallen und Deutschland wiedervereinigt wird?’
„Nach dieser Stunde haben wir gedacht: Jetzt ist er durchgeknallt“
Mülheim im August 1961
Vor dem Mauerbau erreichen jährlich 1000 DDR-Flüchtlinge die Ruhrstadt. Ihre erste Unterkunft finden die Deutschen „aus der Zone“ in der ehemaligen Kaserne an der Kaiserstraße.
Mithilfe spendabler Bürger sorgen die Sozialverbände Caritas, Diakonie und Rotes Kreuz für die Erstversorgung der Neuankömmlinge aus dem Osten Deutschlands, der damals noch als „Mitteldeutschland“ bezeichnet wird, weil man 16 Jahre nach Kriegsende noch auf die Rückgewinnung der ehemaligen deutschen Ostgebiete jenseits von Oder und Neiße hofft. Doch ein entsprechender Friedensvertrag erscheint im Kalten Krieg des Sommers 1961 weiter weg denn je.
Am Vormittag des 15. August demonstrieren die Mülheimer mit einer kollektiven Arbeitsruhe und zwei Schweigeminuten gegen den Berliner Mauerbau. Viele Mülheimer freuen sich auf den am 18. August geplanten Mülheim-Besuch des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer. Doch auch der Wahlkampfauftritt des Kanzlers fällt seiner Verhinderung durch die Berlin-Krise zum Opfer.
Ich antwortete: ,Die Sowjetunion hat etwa 280 Millionen Einwohner. Davon sind 40 Prozent Russen, 60 Prozent - 162 Millionen - gehören anderen Ethnien an. Die meisten wurden im Verlauf der Expansionspolitik Stalins in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts gewaltsam der Sowjetunion einverleibt. Mehrere dieser Minderheiten wurden aus ihren Regionen vertrieben und umgesiedelt. Diese Völker werden die Unterdrückung durch die Russen in Moskau nicht dauerhaft ertragen. In den südlichen Randgebieten der Sowjetunion brodelt es schon, etwa in Georgien und Tschetschenien. Diese Entwicklung wird voraussichtlich zum Zerfall der Sowjetunion führen. Eine Folge wird der Rückzug der sowjetischen Truppen aus Mittel- und Westeuropa sein. Dann spätestens wird die Mauer fallen.’
Acht Jahre später, im Frühjahr 1991, besuchte mich Thomas N. in meinem Abgeordnetenbüro. Er erinnerte mich an unseren Geschichtsunterricht, an seine Frage und meine Antwort: ,Wir Schüler mochten ja ihre Geschichten, besonders im Nachmittagsunterricht. Aber nach dieser Stunde haben wir gedacht: ,Jetzt ist er durchgeknallt.’
„Im Bundestag umarmten sich Abgeordnete, die sich seit Jahren nicht mehr in die Augen geschaut hatten“
Schlotens Parteifreund und Vorgänger im Bundestag, Thomas Schröer (1940-2007), hatte dieser Zeitung nach dem Mauerfall im November 1989 gesagt: „Im Bundestag umarmten sich am Abend des 9. November Abgeordnete, die sich seit Jahren nicht mehr in die Augen geschaut und nicht mehr miteinander geredet hatten. Und mittendrin stand Willy Brandt. Jetzt ist der Ernstfall unserer Sonntagsreden der vergangenen Jahrzehnte eingetreten. Die Welt erwartet von uns, dass wir es ernst meinen.“