Mülheim. . Wenn der Wahl-Mülheimer erzählt, glaubt man einen Thriller über den Kalten Krieg zu hören: Doch alles ist wahr, betont der heute 70-Jährige Zeitzeuge der Teilung Deutschlands. Er schleuste als Spediteurkaufmann Menschen in den Westen.
Viel Zeit zum Denken bleibt dem Spediteurkaufmann Alexander Wiegand nicht: In Helmstedt, wo 1968 der Osten in Grenzen noch durchlässig ist, bittet die Volkspolizei ihn den Motor auszustellen. Etwas kommt ihnen verdächtig vor. Doch Wiegand zieht den Handgaszug durch, sein 192er Bussing – ein Lkw mit Sattelzug – gibt Stoff. Rechtzeitig duckt sich der 27-Jährige zu Boden, hört, wie die Schüsse der Vopos durch die Fahrerkabine pfeifen, sieht noch, wie sich die schweren Betonmauern langsam schließen.
Mit dem Führerhaus kommt er durch auf westlichen Boden, den Anhänger muss er der Deutschen Demokratischen Republik hinterlassen. Doch das Wichtigste hat er dabei: eine junge Frau, die erste von über 130 Menschen, die Wiegand zwischen ‘68 und ‘72 rübergeschleust hat.
Wenn der Wahl-Mülheimer erzählt, glaubt man einen Thriller über den Kalten Krieg zu hören. Doch alles ist wahr, betont der heute 70-Jährige. Als man in Berlin 1961 den ersten Stacheldraht zog, schaffte es Wiegand mit seinem Fiat gerade noch durch das Brandenburger Tor, „zehn Minuten später, und ich hätte im Ost-Block bleiben müssen“, sagt der Zeitzeuge: „Das geteilte Deutschland – für mich war das unfassbar.“
"Mir ging es darum, anderen zu helfen"
Wiegand fährt regelmäßig Granulat- und Leichtmetall-Lieferungen von West nach Ost. Als ein Freund von einer Freundin erzählt, die im Osten zurückblieb, schmiedet Wiegand Pläne für einen waghalsigen Transfer von Ost nach West – „mir ging es darum, anderen zu helfen, Geld habe ich dafür nie genommen“, betont er. Die erste „illegale Schmuggelware“ heißt Ilona Koch. Auf einer Metallplatte unter dem Führerhaus des Lkw muss sie ausharren. Als die Helmstedter Grenzbeamten Verdacht schöpfen, setzt Wiegand alles auf eine Karte und bricht durch die Absperrung.
Den überzeugten Demokraten schreckt das gefährliche Erlebnis nicht ab. Er will weitermachen, nur ist er inzwischen an der Grenze bekannt. Mit falschen Pässen, unterstützt von der Bundespolizei, wagt er die nächste Aktion für eine Frau mit Kind. Beide bringt er ohne Wissen des Fahrers auf einem fremden westdeutschen Lkw zwischen Kabeltrommeln unter. Wiegand fährt vorweg. Als beide rüber sind, halten Beamte den Laster an, Frau und Kind steigen ab – gerettet.
Drei Monate Dunkelhaft in Tschechien
Immer neue Listen denkt sich der damals 28-Jährige aus, knüpft Kontakte zu Grenzwachen in Tschechien, die den „Schleuser“ unterstützen wollen. Sein Lkw bekommt eine Zwischenwand, hinter der sich Menschen ein paar Stunden verbergen können. „Die Wand haben wir mit Sprühlack verkleidet, damit Polizeihunde die Flüchtlinge nicht riechen können.“ Über 130 Menschen schafften es so an den Augen der Volkspolizei vorbei. Bis zum 30. April 1972. Weil ihm ein Stempel fehlt, darf sein Lkw nicht durch, doch der 1. Mai ist Feiertag, Wiegand soll den Wagen bis zum 2. stehen lassen. Und die Menschen hinter der Wand? Die Vopos schöpfen Verdacht und setzen ihn fest.
Der Fluchthelfer erfährt die ganze Härte des sozialistischen Staates: Drei Monate verlebt er in Dunkelhaft in Tschechien, gefesselt an Händen und Füßen: Man will an seine Verbindungsleute. Erzählt er davon, kämpft der 70-Jährige noch immer mit den Tränen. Man bot ihm die Freilassung an, wenn er als verdeckter Informant arbeiten würde, „doch ich habe niemanden verraten.“
Mit der Hilfe eines Mitgefangenen gelang es ihm 5000 DM in Seifen, Zahnpasta und Dosen ins Gefängnis zu schmuggeln. Damit bestach er einen Wachmann und einen Arzt, der ihm lähmende Mittel spritzte und ihn in ein Krankenrevier verlegte. Wegen seiner „Krankheit“ konnte ihn die bundesdeutsche Botschaft auslösen. Den 1. September 1976 vergisst er nicht: Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher überreichte ihm am Flughafen nach Deutschland den Pass mit den Worten: „Sie sind jetzt ein freier Mensch.“