Mülheim. Nach einem „schulscharfen Sozialindex“ will NRW künftig Lehrerstellen verteilen. Die Daten gibt es in Mülheim, aber sie sind nicht öffentlich.

Schulen in schwieriger sozialer Lage sollen bald mehr Personal bekommen. Das hat die NRW-Landesregierung angekündigt und will ein neues Instrument einführen, um die Stellen fair zu verteilen: den schulscharfen Sozialindex für jeden einzelnen Standort. In Mülheim existieren diese Daten schon, aber sie werden nicht veröffentlicht. Die Frage ist, warum?

Wie leicht oder schwer sich Kinder in der Schule tun, hängt nicht nur von der Intelligenz ab. Das soziale Umfeld spielt eine entscheidende Rolle. Schon jetzt arbeitet das Schulministerium mit einem Kreissozialindex, der die soziale Belastung von Kreisen oder kreisfreien Städten misst. Er kommt zum Tragen, wenn Grund- und Hauptschulen zusätzliche Stellen erhalten gegen Unterrichtsausfall oder für besondere Förderaufgaben. Diese Stellen werden zu 70 Prozent nach dem Kreissozialindex verteilt, zu 30 Prozent nach der Schülerzahl.

Zusätzliche Lehrerstellen werden nach Sozialpunkten verteilt

Um den Index zu berechnen, werden vier Faktoren herangezogen: Arbeitslosenquote, Sozialhilfequote, Anteil der Kinder aus zugewanderten Familien und Anteil der Wohnungen in Einfamilienhäusern. Je größer die sozialen Handicaps, desto höher die Indexpunkte. Mülheim kommt derzeit auf 62,4 Punkte (siehe Grafik) und steht Im Vergleich zehn großer Ruhrgebietsstädte noch relativ gut da.

Zwar wird schon jetzt bei der Zuweisung von Lehrerstellen berücksichtigt, welche Schulen vor Ort besonders schwierige Bedingungen haben, aber ein festes Verfahren, einen konkreten Anspruch gibt es nicht. Gefordert wird dies unter anderem von einem neuen Bündnis, zu dem sich Brennpunktschulen zusammengeschlossen haben. Sie fordern, Ungleiches ungleich zu behandeln

Brennpunktschulen fordern: Ungleiches ungleich behandeln

In Mülheim ist dieser Gedanke keineswegs neu: Schon vor gut zehn Jahren, als der Schulausschuss die Verwaltung beauftragte, einen Schulentwicklungsplan zu erstellen, sollten auch Sozialindices für jede einzelne Schule entwickelt werden. Jan Amonn und Thomas Groos vom Zentrum für interdisziplinäre Regionalforschung (Zefir) der Ruhr-Uni Bochum haben sich dieser Aufgabe gewidmet und ihre Ergebnisse 2011 präsentiert.

Benutzt wurden Daten der Schuleingangsuntersuchungen, sofern sie ein erhöhtes Entwicklungsrisiko darstellen können, beispielsweise niedriger Bildungsstand und/oder Arbeitslosigkeit der Eltern, Migrationshintergrund, alleinerziehende Eltern, viele Geschwister. Auch Förderfaktoren wurden berücksichtigt, etwa die Dauer des Kita-Besuches oder Mitgliedschaft im Sportverein, und auf der anderen Seite Handicaps wie Sprachauffälligkeiten, Übergewicht oder sonderpädagogischer Förderbedarf.

Aufschlussreiche Berichte

Zu den sozialen Profilen der einzelnen Mülheimer Schulen sind von Forschern der Ruhr-Universität Bochum zwei Studien erstellt und veröffentlicht worden. Im Jahr 2011 erschien ein Bericht, der die gesamte Schullandschaft betrachtet (Grund- und weiterführende Schulen), 2014 folgte eine aktualisierte Erhebung speziell zu den Grundschulen.

Beide Berichte - jeweils knapp 80 Seiten lang und inhaltlich sehr aufschlussreich - findet man auf der Homepage der Stadt Mülheim unter dem Suchbegriff „Veröffentlichungen Statistik/Stadtforschung“ und dort am Ende der Auflistung („Zusatz“).

Für die 22 Mülheimer Grundschulen ergaben sich daraus sechs Standorte mit ausgesprochen günstigen Bedingungen sowie sechs Standorte, an denen gehäuft Problemlagen auftreten. Indem sie die Wechselströme zu den weiterführenden Schulen nachzeichneten, konnten die Wissenschaftler auch Sozialindices der Gymnasien, Gesamtschulen, Realschulen und Hauptschulen in Mülheim (damals gab es noch drei) berechnen. Ihr Bericht zeigt deutlich, wo sich die Probleme häufen.

Berichte zeigen, an welchen Standorten sich die Probleme häufen

Seit 2011 ist diese Studie schon zwei Mal aktualisiert worden, 2014 und zuletzt 2017. Dieser Drei-Jahres-Takt sei sinnvoll, erläutert Brita Russack, Leiterin des Mülheimer Bildungsbüro: „Man erkennt durchaus Verschiebungen. Es gibt Veränderungen in den Stadtteilen, durch die sich auch die Herausforderungen der Schulstandorte ändern.“

Weiterführende Schulen sind gegen eine Veröffentlichung

Allerdings: Die weiterführenden Schulen in Mülheim haben 2013 ein Veto eingelegt, sie wollen nicht mehr, dass die Berichte veröffentlicht werden. Ihre Sorge sei, so Brita Russack, „dass man aus dem Sozialindex ein Schulranking herauslesen kann“. Daher wird der schulscharfe Sozialindex bislang nur verwaltungsintern benutzt. Anders ist es bei den Mülheimer Grundschulen: Hier wurde der Sozialindex für jeden einzelnen Standort 2014 noch einmal publik gemacht, um zusätzliche Schulsozialarbeiter aus Bundesmitteln zu bekommen.

Nach Plänen der NRW-Landesregierung sollen ab dem Schuljahr 2021/22 Lehrerstellen zumindest teilweise nach dem schulscharfen Sozialindex verteilt werden. Ob die Daten herausgegeben werden, ist dann auch in Mülheim keine Frage mehr.