Mülheim. Hunderte Impfungen mit Astrazeneca in Mülheim müssen abgesagt werden. Ein Impfarzt sieht in anderen Bereichen deutlich höhere Risiken.
Die Bekanntmachung des Gesundheitsministeriums hat das Impfgeschehen am Montag kurz vor 16 Uhr im Mülheimer Impfzentrum kalt erwischt. Einige Impflinge saßen da schon mit aufgekrempeltem Ärmel in der Kabine, als es hieß: Corona-Impfungen mit dem Präparat des Herstellers Astrazeneca sind vorübergehend auszusetzen.
598 Impfungen mit dem Astrazeneca-Impfstoff waren am Montag geplant, 222 impfberechtigte Menschen mit Termin gingen nach dem verordneten Impfstopp leer aus. Auch die geplanten 1150 Impfungen von Kita- und Schulmitarbeitenden in dieser Woche können nicht stattfinden, schätzt die Stadt. Die Impfaktion der Fliedner-Stiftung ist ebenfalls abgesagt.
Mülheimer Impfzentrum: „Keinen Einfluss auf die Entscheidung“
Die Stadtverwaltung hat am Montag noch versucht, per Mail vereinbarte Impftermine abzusagen, so Stadtsprecher Thomas Nienhaus. Doch für die, die schon vor der Tür standen, kam das zu spät. Thomas Franke, der ärztliche Leiter des Rettungsdienstes und am Montag als leitender Impfarzt im Einsatz, fand „großes Verständnis“ bei den Bürgern.
„Wir haben sofort mit dem Impfen aufgehört und die rund schon 100 aufgezogenen Spritzen in die Kühlung gegeben“, sagt der Arzt. „Viele hatten sich auf die Impfung gefreut und waren natürlich sehr enttäuscht. Aber die Leute haben sehr gefasst reagiert. Sie haben ja gemerkt, dass wir im Impfzentrum keinen Einfluss auf die Entscheidung haben.“
Viele Fragen am Bürgertelefon im Mülheimer Rathaus
Dennoch lief das Bürgertelefon im Rathaus heiß, weil viele Menschen Fragen hatten, so Stadtsprecher Nienhaus, erst am Dienstag entspannte sich die Lage. „Wir müssen“, so Nienhaus, „aber nun abwarten, wie die Entscheidung ausfällt“. Sobald man wisse, wie es weitergehe, würden über die Einrichtungsleitungen von Kitas und Schulen neue Impfangebote für Lehrer und Erzieher gemacht. Auch andere Impfberechtigte brauchen nach einer Absage nun neue Termine
Derzeit werde im Impfzentrum noch der Biontech-Impfstoff verimpft, vor allem an die Über-80-Jährigen. Die vorhandenen Impfdosen des Moderna-Vakzins seien zum Beispiel für ambulante Wohneinrichtungen wie betreutes Wohnen vorgesehen, erklärte Impfarzt Thomas Franke. Beschäftigte von Kitas und Schulen, bei denen die ersten in der vergangenen Woche mit Astrazeneca geimpft worden sind, werden in dieser Woche wohl nicht weiter geimpft. 1150 Impfungen insgesamt waren von Mittwoch bis Samstag im Impfzentrum vorgesehen, so die Stadtverwaltung.
Fliedner-Stiftung stoppt die geplanten 800 Impfungen in dieser Woche
Die Fliedner-Stiftung wollte in dieser Woche in Abstimmung mit der Stadt Mülheim 800 Impfungen für Mitarbeitende und Beschäftigte der Fliedner-Werkstätten durchführen - mit dem Astrazeneca-Impfstoff. „Unsere Planungen stehen, wir sind bereit und warten auf Informationen, wann wir starten können“, sagte eine Sprecherin auf Nachfrage.
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Rund 4700 Impfungen mit Astrazeneca wurden bisher in Mülheim verabreicht. Von Nebenwirkungen in Form von Thrombosen in Mülheim hat Dr. Stephan von Lackum, niedergelassener Hausarzt und ebenfalls leitender Impfarzt, bisher keine Kenntnis. Er nennt die bundesweiten Zahlen: Nach der Impfung von insgesamt 1,6 Mio Dosen Astrazeneca habe es sieben Fälle von Thrombosen gegeben. Vier Fälle über Wochen und statistisch zuletzt eine Häufung von drei Fällen innerhalb weniger Tage.
Die Hausarztpraxen sollten mit dem Astrazeneca-Präparat impfen
Seine persönliche Ansicht zum Impfstopp mit Astrazeneca: „In vielen Bereichen ist das Risiko einer Nebenwirkung deutlich höher.“ Er erinnert daran, dass etwa bei Einnahme der Antibabypille das Risiko für eine Thrombose bei 1 : 10.000 Fällen liege. Dennoch, so der Arzt, müsse man das jetzt kritisch überprüfen. Aber das müsse auch zügig geschehen, man sei in einer Pandemie: „Die Fallzahlen steigen und steigen – und wir impfen deutlich weniger durch den Wegfall dieses Impfstoffs .“ Da müsse man schon überlegen, welches Risiko höher sei.
Für den Impfstart in den Hausarztpraxen im April sieht Dr. von Lackum schwarz. „Das wird sich noch weiter verschieben“, schätzt er. „Wir Hausärzte sollten ja auch Astrazeneca bekommen.“ Sein Kollege Dr. Peter Ramme erinnert daran, dass der Impfstart für die Niedergelassenen nun erst am 19. April sein soll.
Der Vorsitzende des Doc Net Mülheim, des Netzwerks der niedergelassenen Haus- und Fachärzte, hat die Hoffnung, dass die Europäische Medizinagentur EMA bis dahin eine Schätzung zu den Inhaltsstoffen von Astrazeneca herausgegeben hat, „so dass wir doch impfen können.“ Möglicherweise könnte es bei einer Nutzen-Risiko-Abwägung Einschränkungen für bestimmte Patienten geben, die schon einmal eine Prognose hatten. „Ganz wichtig ist“, betont auch er, „dass wir mit dem Impfen weiterkommen.“
Von Astrazeneca hat die Stadtverwaltung noch 78 Injektionsfläschchen im Kühlschrank
Die rund 100 am Montag noch im Impfzentrum aufgezogenen Spritzen halten sich maximal bis zum Mittwoch. Wenn sie dann nicht verimpft werden können, muss man sie entsorgen. „100 allein in Mülheim. Rechnen Sie das mal bundesweit hoch“, so von Lackum. Die Impfungen mit dem Biontech-Präparat erfolgen indes ohne Unterbrechung und Zwischenfälle weiter, so Dr. von Lackum.
Vom Astrazeneca-Wirkstoff hat die Mülheimer Stadtverwaltung noch 78 Injektionsfläschchen auf Lager. Verschlossen und im Kühlschrank sind sie sechs Monate lang haltbar. Aus einem Fläschchen lassen sich zehn bis zwölf Impfdosen ziehen. Wer bereits die erste Impfung mit Astrazeneca bekommen habe, braucht die zweite erst in zwölf Wochen. Bis dahin sollte eine Entscheidung gefallen sein.