Mülheim. Dieter Wiechering stand 23 Jahre lang an vorderster Front in Mülheims Kommunalpolitik. Jetzt ist für den ehemaligen SPD-Fraktionschef Schluss.
1994, auch da lag die SPD nach der Kommunalwahlschlappe schwer angeschlagen am Boden, übernahm Dieter Wiechering den Vorsitz der SPD-Fraktion. Nun ist der 78-Jährige in den politischen Ruhestand gegangen. Ein Interview.
23 Jahre lang waren Sie Fraktionsvorsitzender der SPD. Jetzt sind Sie aus dem Stadtrat ausgeschieden. Wie schwer fällt Ihnen der Abschied aus der aktiven Politik?
Wiechering: Eigentlich verhältnismäßig leicht. Ich bin ein Mensch, der sich Dingen hingeben kann, der ein hohes Verantwortungsbewusstsein und Pflichtgefühl hat. Ich kann aber genauso gut, wenn Schluss ist, auch sagen: Jetzt ist Schluss. Ohne dass ich der Aufgabe lange wehmütig hinterherjammere.
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Erinnern Sie sich an Ihre politischen Anfänge in Mülheim? Was war Ihr Antrieb, so lange Zeit Kommunalpolitik zu machen?
Es fing damit an, dass ich in der Anlage, wo wir unsere Wohnung hatten, in den 70er Jahren mit anderen Gleichgesinnten, die hier hingezogen sind nach der Gründung der Kraftwerks-Union [heute Siemens], Kinderfeste organisiert habe. Bei mir auf dem Flur wohnte damals der Hauptkassierer des SPD-Ortsvereins Broich, ein älterer Herr, zu dem meine Frau und ich Kontakte hatten. Der hat mich öfter daran erinnert, dass ich in die SPD eintreten sollte, so wie mein Vater in die SPD eingetreten war.
1981 waren Sie schon Ortsvereinsvorsitzender, 1994 bis Juni 2017 dann Fraktionschef im Stadtrat. Was waren Ihre schwierigsten Verhandlungen als Fraktionschef?
Das Umgehen miteinander, insbesondere 1994 mit den Grünen. Das Verhältnis, wenn man da von Verhältnis reden kann, war zerrüttet. Damit musste ich umgehen, um zu schauen, ob man gegebenenfalls an der einen oder anderen Stelle auch gemeinsam Politik machen kann.
Und gelungen ist es nicht.
Nicht so richtig, das stimmt.
Warum ist das Verhältnis zu den Grünen heute noch so belastet?
Die Wunden wurden immer wieder aufgerissen. Die Kameradinnen und Kameraden bei den Grünen haben oftmals über die Führungskräfte der SPD gemeckert und gemosert, aber was sie mit uns 1994 gemacht haben, war auch nicht gerade gentleman-like. Denn wir haben damals mit ihnen ein Wochenende lang zusammengesessen und ein gemeinsames Papier erarbeitet zur weiteren Entwicklung dieser Stadt. Wir haben richtig gut gearbeitet und uns auch gut vertragen. Am Tag drauf haben wir dann erfahren, dass sie zur gleichen Zeit an anderer Stelle auch mit den Schwarzen zusammengesessen und uns außenvorgelassen haben. War auch nicht die feine Art.
Ein Vierteljahrhundert ist das her. Und man hat es nicht geschafft, sich wieder richtig anzunähern.
Ich hatte keine Probleme mit denen, die zu meiner Zeit bei den Grünen die Führung übernommen haben. Ich habe ein gutes Verhältnis zu Tim Giesbert und auch zu einigen anderen.
Welche Bilanz ziehen Sie selbst für Ihr langes kommunalpolitisches Wirken? Was sind die größten Errungenschaften, an denen Sie mitgewirkt haben?
Die Broicher Mitte, um bei meinem kleinen Sprengel anzufangen. Das große Werk der Müga, ein einmaliges Stadtentwicklungsprojekt. Auch Ruhrbania und die Fachhochschule. Auch haben wir ein paar Mal die Innenstadt umgekrempelt.
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Allerdings nicht mit einem Ergebnis, mit dem die Bürger zufrieden sind. . .
Ja, nicht mit dem nötigen Erfolg. Aber das lag nicht daran, dass wir in Politik und Verwaltung die falschen Planungen vor der Nase hatten. Es lag daran, dass sich das Einkaufsverhalten der Menschen insgesamt verändert hat. Uns haben schon die Gutachten in den 90er Jahren deutlich gemacht, dass Einzelhandel in Innenstädten nicht mehr der große Renner sein wird, sondern wir uns was anderes überlegen müssen. Dass wir mehr Wohnraum schaffen müssen und mehr Raum für Dienstleistungsgewerbe.
Da ist auch nicht viel draus geworden, schaut man sich den sozialen Zustand der Innenstadt an mit einer zunehmend armen Bewohnerschaft.
Wir hatten mal einen schönen Leitbild-Prozess in der Planung und der Diskussion.
Lange nichts mehr von gehört. . .
Genau. Es fehlt insgesamt ein vollumfassender Plan für die Innenstadt. Es ist an der einen oder anderen Stelle immer nur Stückwerk.
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Jetzt hatte die SPD ja lange schon keine feste Mehrheit mehr im Stadtrat. Aber hätte es nicht die Möglichkeit gegeben, mit der CDU ein solches Gesamtkonzept zu entwickeln?
Gesprochen haben wir darüber, aber wir sind nicht zu Potte gekommen. Wir haben zu häufig an Einzelheiten herumgedoktert. Eigentlich brauchen wir eine Stadtentwicklungsgesellschaft.
Was war Ihr bewegendster Moment in der Kommunalpolitik?
Das hört sich jetzt theatralisch an, aber es war meine Ehrung mit dem Ehrenring der Stadt.
Was hat Sie am meisten enttäuscht?
Zuletzt die Behandlung der VHS. Dass man seitens Verwaltung und Politik den Bürgerentscheid nicht umsetzt, das ist schon ein starkes Stück. Das Thema VHS, da bin ich sicher, hatte bei der Kommunalwahl bei vielen Menschen Einfluss auf die Wahlentscheidung.
Sie selbst haben sich aber mit der SPD enthalten. Fraktionszwang?
Ja. Da bin ich dann nicht rausgekommen.
Noch eine Enttäuschung?
Enttäuscht bin ich auch, dass es bei Ruhrbania nicht weitergeht. Es liegen ja Pläne vor. Man sollte noch mal alles nebeneinanderlegen, das Beste raussuchen und daraus ein Konzept machen. Es bedarf außerdem einer Initiative der Stadt.
Sie wollten heute Ihr Geheimnis lüften und drei Entscheidungen benennen, die Sie nicht mehr so treffen würden. Nur zu!
Bei der Kenntnislage von heute würde ich die Gesellschaftsanteile von RWW nicht mehr verkaufen. Das gab damals lediglich einen Einmaleffekt für den Haushalt und nichts Nachhaltiges. Das Zweite ist unsere damalige Zustimmung zum Heifeskamp. Da war ja erst eine kleine Lösung mit Stadtteilzentrum vorgesehen, ähnlich wie in Broich, ein bisschen größer. Dann kam der größte Oberbürgermeister aller Zeiten [Jens Baganz, CDU] und hat die Ausschreibung bundesweit geöffnet. Dem haben wir zugestimmt und so ist das daraus geworden, was wir heute haben: Auf der einen Seite ist es im Sinne der Kunden, das ist auch in Ordnung. Aber auf der anderen Seite hat es Schaden hinterlassen in der Innenstadt. Der dritte Punkt: Wir hatten immer Auseinandersetzungen mit OB Baganz. Als er dann ging, haben wir seiner Entlastung zugestimmt. Wenn auch nicht juristisch: Politisch aber wäre es angebracht gewesen, ihn nicht zu entlasten aufgrund der strittigen politischen Entscheidungen, die er getroffen hat.
Die Erlöse aus dem Verkauf der RWW-Anteile waren schnell verfrühstückt. Die Stadt ist in der Zeit nach der Jahrtausendwende im Rekordtempo in die Überschuldung gesteuert. Mindestens ein Viertel der 2,1 Milliarden Euro Schulden, sagt der Kämmerer, hat Mülheim selbst verschuldet. Müssen Sie sich das auch als Makel anheften?
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Die Verschuldung begann ja nach 1994, das darf man nicht vergessen, auch wenn ich Schwarz-Grün jetzt nicht die alleinige Schuld zuweisen will. Wir hatten 1994 den letzten ausgeglichenen Haushalt. In Folge gab es unausgeglichene, nicht genehmigte und nachträglich genehmigte Haushalte bis in die 2000er Jahre hinein. Dann kam die Phase, wo wir an unseren Bildungseinrichtungen, an unseren Schulen was machen mussten. Da ging eben auch die Verschuldung nach oben. Aber das war notwendig. Die Leute waren unzufrieden mit dem, was wir an Schulgebäuden bereits vorgefunden hatten. Das haben wir mit Frau Mühlenfeld beseitigt. Auch das Rathaus musste saniert werden. Und wir haben das Medienhaus gebaut. Es sind aber auch die finanziellen Belastungen aufgrund der Zuwanderung zu nennen.
Auch über ÖPP-Projekte, etwa für den Bau der Hauptfeuerwache, hat man sich sehr viele Belastungen in den Kernhaushalt geholt, die dort exorbitant hemmende Wirkung entfachen. Hat man sich da nicht übernommen? Zu viel gemacht, was man sich eigentlich gar nicht leisten konnte?
Im Nachhinein wird man das sicher so benennen können. Aber damals war es eigentlich notwendig, gegenüber den Bürgern deutlich zu machen: Wir schaffen was.
Schauen Sie mal nach vorne! Was muss dringend angepackt werden, um die Stadt aus dem Schlamassel zu führen?
Zur Person: Dieter Wiechering
Dieter Wiechering stammt gebürtig aus Nordenham-Einswarden in Niedersachsen. Während seiner Ausbildung zum Metall-Flugzeugbauer erlangte er über den zweiten Bildungsweg seine Fachhochschulreife und studierte später Maschinenbau. 1970 zog er nach Mülheim, um bei der Kraftwerksunion zu arbeiten. Wiechering hat einen Sohn.
Seit 1971 ist Wiechering, geprägt durch sein sozialdemokratisches Elternhaus, Mitglied in der SPD. Zwischen 1981 und 2006 war er Vorsitzender des SPD-Ortsvereins Broich. Von 1979 bis 2020 saß Wiechering für die SPD im Stadtrat, von 1994 bis 2017 als Fraktionschef.
Natürlich muss man sich dem Haushalt zuwenden. Die nächsten Haushaltsberatungen werden ganz spannend.
Was müsste Ihrer Meinung nach getan werden?
Zumindest müsste Einsparpotenzial aufgezeigt werden.
Sehen Sie da selbst noch was? Sie haben schließlich selbst lange über Haushaltsplänen gebrütet.
Nach wie vor im ÖPNV. Und nach wie vor durch die Neuansiedlung von Unternehmen, das heißt auch: über die Ausweitung von Gewerbeflächen. Man muss es nur politisch anders anpacken, indem man die Bürger von vornherein mit auf die Reise nimmt. Um ihnen etwa deutlich zu machen, wie ein Gewerbegebiet aussieht, das Ökologie und Ökonomie versöhnt. Das ist nicht gemacht worden.
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Auch das kann Politik ja steuern. Ihre Fraktion hätte ja beantragen können, dass die Verwaltung erst einmal aufzeigt, wie ein Gewerbegebiet der Zukunft aussehen soll, das nach ökologischen Gesichtspunkten entwickelt wird.
Dafür war ich nicht mehr verantwortlich. Aber es sind ja einige Versäumnisse gewesen. Die Bürger nicht mit auf die Reise zu nehmen, zeigte sich ja beim Friedhofskonzept bis hin zur VHS. Da war keiner politisch in der Lage, mal zu überschauen, was da eigentlich passiert. Die politischen Führungskräfte haben ja nicht mal gesehen und gespürt, dass die Bürger den Eindruck hatten, es wird gegen sie regiert.
Aber da kann ich mir doch nicht vorstellen, dass ein Dieter Wiechering in der Fraktionssitzung nicht aufsteht und genau das anspricht.
Sie können mir vielleicht vorwerfen, dass ich das nicht gemacht habe. Aber es wäre auch nicht durchgedrungen. Denn zu jener Zeit war die SPD-Fraktion nur in der Lage, sich darüber zu streiten, wer in Sachen Oberbürgermeister recht hat.
Bei der Wahl hat Mülheims SPD so schlecht abgeschnitten wie nie zuvor in den 75 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine gerechte Strafe des Wählers?
Ich sage mal: Wenn der Wähler entscheidet, ist es immer gerecht – aus seiner Sicht.
Sie müssten sich sehr glücklich schätzen, Mitte 2017 den Fraktionsvorsitz abgegeben zu haben. Es kam für die SPD mit der OB-Affäre knüppeldicke.
Es ist vielleicht ein bisschen grob, wenn ich das jetzt so beurteile, aber ich bin da meiner Meinung nach auf der richtigen Seite: Da gab es einige politische Blödheiten. Es war politisch blöd, gegen den OB vorzugehen, ohne einen zweiten Plan zu haben. Wie das geendet ist, haben wir gesehen. Es war auch politisch blöd, ein Dreivierteljahr vor der Kommunalwahl mit Gewerbeflächen durch die Gegend zu ziehen. Es war auch politisch blöd, gegen den OB ein Amtsenthebungsverfahren in Gang zu setzen, ohne dass Mehrheiten da waren.
In einem Interview mit uns im Juli 2018 sind Sie mit den Genossen, die OB Scholten zum Sturz bringen wollten, hart ins Gericht gegangen. Sie waren als Fraktionschef auch schon unzufrieden mit der Amtsführung Scholtens, die ohne Duftmarke für Stadtentwicklung und andere wichtige Zukunftsfragen blieb. Wären Sie in der Rolle Ihres Nachfolgers Dieter Spliethoff gewesen: Wie wären Sie mit dem Problem umgegangen?
Ich hätte mit dem OB immer wieder gesprochen und hätte ihm deutlich gemacht, welche Konsequenzen sein Verhalten für uns alle hat. Ich hätte das auch nicht alleine gemacht. Ich hätte mir jemanden gesucht, der auf den OB Einfluss nehmen kann. Jedenfalls hätte ich es nicht so gemacht, wie sie es getan haben. Um das noch mal deutlich zu machen: Wenn Sozialdemokraten mit Hilfe eines Staatsanwaltes aufeinander losgehen, ist das schon eine dicke Nummer.
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Jetzt muss sich die SPD wohl erstmals in der Opposition profilieren und neues Vertrauen aufbauen. Wie kann das aus Ihrer Sicht gelingen?
Das, was die SPD jetzt durchmacht, habe ich 1994/95 auch durchgemacht. Von uns wollte niemand in der Stadt mehr was wissen. Ganz wichtig, und das stand bei mir immer an oberster Stelle: Die Geschlossenheit von Partei und Fraktion muss hergestellt werden. Deswegen fand ich es auch richtig von der neuen Fraktionsvorsitzenden Margarete Wietelmann, dass sie gesagt hat, sie will einen Beitrag leisten, den Frieden zwischen Fraktion und Partei wiederherzustellen.
Was hilft in der Krise?
Das ist der richtige Ansatz in dieser Zeit. Aber es darf nicht beim Ansatz bleiben. Zum Beispiel haben wir 1995 eine umfassende Beteiligung aller Mitglieder der SPD, aber auch der Öffentlichkeit ins Leben gerufen, indem wir offene Arbeitskreise gebildet haben, auch unter Beteiligung interessierter Bürger. Und wir haben damals auf einem Parteitag die Lage diskutiert und aufgearbeitet. Ein Ergebnis dieses Parteitags war zum Beispiel, einmal im Jahr einen kommunalpolitischen Parteitag stattfinden zu lassen, wo dann auch Entwicklungsperspektiven für die Stadt aufgezeigt werden. Das ist damals von Erfolg gekrönt worden.
Was hat sich in den 40 Jahren, die Sie Kommunalpolitik gemacht haben, verändert?
Ganz viel. Das fängt bei der Kleiderordnung im Rat an. Wenn damals jemand ohne Schlips erschienen ist, wurde man darauf hingewiesen, dass der Respekt vor dem hohen Hause es erfordert, dass man auch entsprechend gekleidet auftritt. Wenn ich heute sehe, wie manch einer da rumläuft. . . Auch die Sprache war eine ganz andere, sie war auch respektvoller.
Sie haben unglaublich viel Zeit als Ehrenamtler in die Kommunalpolitik investiert. Was machen Sie nun mit Ihrer gewonnenen Zeit?
In den vergangenen Wochen und Monaten habe ich versucht, mein Leben in Ordnung zu bringen – und zwar in all den Sachen, die ich gesammelt habe: viel Politik, viel Schreibkram.
Konnten Sie sich von allem trennen?
Ich bin Sammler vor dem Herrn. Ich sammle nicht nur Papier. Ich sammle Unterlagen aus meiner gesamten politischen Tätigkeit, ich sammle aber auch kulturhistorische Zinnfiguren und kleine Schiffe im Maßstab 1:1250. Ich habe eine kleine Sammlung Tabakpfeifen. . . Neben dieser Sammelei versuche ich mich auch im Schiffsmodellbau. Ich will noch einmal in meinem Leben so ein schönes Schiffsmodell bauen. Nun bin ich gestürzt und ins Krankenhaus gekommen. Als ich wieder zu Hause ankam, standen da mein Sohn und seine Partnerin, drucksten rum und sagten: Wir überraschen dich gleich. Sie haben dann gebeichtet, dass sie alles, was in meiner Wohnung rumlag, in Umzugskartons gepackt haben. Nicht sortiert, nur ganz grob. So waren aber immerhin mein Esstisch und mein Sofa freigeräumt. (lacht)
Werden Sie einer Ratssitzung noch als Besucher bewohnen?
Das glaube ich nicht.