Mülheim. . Dieter Wiechering war 23 Jahre war bis 2017 Fraktionsvorsitzender der SPD. Auf die Schlammschlacht um die OB-Affäre hat er seine eigene Sicht.

Fast genau vor einem Jahr hat sich Dieter Wiechering nach 23 Jahren aus dem SPD-Fraktionsvorsitz zurückgezogen. Keine 400 Tage später tobt die Schlammschlacht um die Spesenabrechnungen von SPD-Oberbürgermeister Ulrich Scholten, die eigene Partei ist tief zerstritten in der Sache. Wir haben Wiechering auf einen Espresso und ein Gespräch in die Redaktion eingeladen. Ihm war nach Wasser.

Als Fraktionsvorsitzender haben Sie sich über 23 Jahre mächtig Arbeit ans Bein gebunden. Wie haben Sie das letzte Jahr ohne diese Verantwortung erlebt?

Dieter Wiechering: Bei meinem Entschluss, nicht mehr zu kandidieren, war ich mit mir im Reinen. Ich bin es auch heute noch. Die Zeit bis Pfingsten habe ich genossen und genutzt für mein Privatleben, zum Beispiel, um meinen Haushalt in Ordnung zu bringen. Ich hatte Freizeit – kein Druck, kein Stress. Konnte mal bummeln, meinen Hobbys nachgehen. Von daher bin ich ganz zufrieden. Ich habe zuletzt aber auch einige schlaflose Nächte gehabt, als es da richtig rundging.

„Zuallererst eine interne Verwaltungsangelegenheit“

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Schauen wir mal hinter den Vorhang: Die SPD-Fraktionsspitze um Dieter Spliethoff und Claus Schindler hat mit den SPD-Dezernenten Frank Mendack und Ulrich Ernst den OB in einem Gespräch Mitte Mai schon zum Rücktritt aufgefordert. Das macht man doch eigentlich nur, wenn man einen Nachfolger parat hat. Der aber wurde nie benannt.

Das ist für mich das große Rätsel: Warum kämpft man so erbittert um eine Sache, die im Vergleich zu anderen Finanzproblemen wesentlich geringere Bedeutung hat und die zuallererst mal eine interne Verwaltungsangelegenheit gewesen ist: nämlich die Korrektur der liederlich ausgefüllten Bewirtungsbelege.

Die Spesenabrechnungen sollen aber nur die Spitze des Eisberges gewesen sein.

Alles andere sind Gerüchte. Zu einem möglichen Alkoholproblem hat sich ja schon Jochen Hartmann vom BAMH gemeldet. Wir wissen, dass Ulrich Scholten ein lebensfreudiger Mensch ist, gerne Wein trinkt und dass er leichtfertig damit umgegangen ist. Ich habe aber nie gerochen, dass er eine Alkoholfahne hat. Ich habe ihn im Amt nie betrunken oder angeschlagen erlebt.

Verwaiste Führungsetage im Rathaus

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Im Sommer 2016 haben Sie, noch Fraktionschef, mit Ihrem Fraktionsgeschäftsführer Claus Schindler das Gespräch mit dem OB gesucht, um nur neun Monate nach der OB-Wahl Kritik an dessen Arbeit zu üben. Was hatten Sie damals zu kritisieren?

Man hat sich damals aufgeregt, dass der OB oftmals im Mezzomar gesessen hat, dass die Mittagspause ausgedehnt worden ist und dass zum Beispiel freitagnachmittags um 16 Uhr keiner mehr in der Führungsetage des Rathauses war. Ich bin aufgefordert worden, darüber mal mit dem OB zu sprechen.

Wer hat es an sie herangetragen?

Alles, was ich bis jetzt gehört habe über Tratsch, Klatsch, Gerüchte, Wahrheiten, habe ich aus Kreisen der Verwaltung erfahren.

„Es war aber nicht sichtbar, wie es da vorangeht“


Dieter Wiechering (links) und Wolfgang Michels (CDU) 2017 im Stadtrat.
Dieter Wiechering (links) und Wolfgang Michels (CDU) 2017 im Stadtrat. © Oliver Müller

Sie hatten 2016 aber auch politisch-inhaltlich Kritik am OB.

Es ging um die Amtsführung. Es ist im Laufe der Zeit deutlicher geworden, dass er nicht der Richtliniengeber gewesen ist. Auch habe ich darauf hingewiesen, dass wir mehr Anwesenheit in der Fraktion erwarten. Meine Sorge war damals, dass wir kein vergleichbares Projekt aufgesetzt haben werden, wenn die Innenstadt-Projekte, die jetzt im Gange sind, wie Kaufhof und Woolworth, fertig sind. Bei den Baufeldern 3 und 4 von Ruhrbania dauert es ja auch schon etliche Jahre. Der OB hatte die Innenstadt zu seinem Thema gemacht. Es war aber nicht sichtbar, wie es denn da vorangeht.

Wann sind Rücktrittsforderungen aufgekommen?

Das weiß ich nicht. Ich habe es nach einer Fraktionssitzung vor Pfingsten befürchtet, als die Familientragödie des OB gerade zwei Wochen her war und die Bewirtungsbelege Thema waren. Da hat der Kämmerer mir aus anderthalb bis zwei Metern Entfernung die Belege gezeigt und mir gesagt: Er macht das nicht mehr mit und will später nicht angeklagt werden wegen Beihilfe zur Untreue.

Schwerwiegende Vorwürfe an Kämmerer Mendack

Nehmen Sie dem Kämmerer seine Motivation ab?

Der Kämmerer konnte in dem Moment, wo er es geäußert hat, nicht mehr zurück. Da hätte man aber viel früher was machen müssen. Im März 2017 ist der Rechnungsprüfungsbericht verschickt worden. Von da bis heute ist nichts passiert. Weder im OB-Dezernat noch beim Kämmerer oder beim Stadtdirektor, der Dienstherr ist für die Verwaltungsmitarbeiter im Rechnungsprüfungsamt. Auch aus der Politik gab es über ein Jahr lang keine Reaktion. Mein Eindruck ist, dass das Gutachten beauftragt worden ist, um die Angelegenheit so schnell wie möglich an die Politik gelangen zu lassen. Der Kämmerer konnte ja nicht einfach die Zettel auf den Tisch legen und sagen: Guck mal, was hier los ist.

Sind Ihrer Meinung nach so lange so viele Indizien wie möglich für mutmaßliches Fehlverhalten gesammelt worden, bis es endlich so weit war?

Der Eindruck entsteht doch, denn man hat die Zettel über ein ganzes Jahr sammelt. Wenn man vorher schon gesagt hat, das läuft nicht richtig, hätten Regeln aufgestellt werden müssen, nach denen sich der OB richten muss. Die gibt es nicht und die gab es nie. Die hätte es aber seit der Empfehlung des Rechnungsprüfungsamtes im März 2017 geben müssen. Das wäre eine Angelegenheit von zwei Tagen gewesen.

Bei OB-Budget hat Nothaushalt keine Rolle gespielt

Was wäre so eine Regel: Kein Alkohol bei Dienstgesprächen?

Wiechering: „Allein das Budget der Verfügungsmittel von 10 000 Euro kann der OB ja nicht alleine für sich erhöhen.“
Wiechering: „Allein das Budget der Verfügungsmittel von 10 000 Euro kann der OB ja nicht alleine für sich erhöhen.“ © Oliver Müller

Zum Beispiel. Allein das Budget der Verfügungsmittel von 10 000 Euro kann der OB ja nicht alleine für sich erhöhen. Der Kämmerer hätte dem OB die Nothaushaltssituation ja schon früher ,um die Ohren hauen’ und seinen Finanzvorbehalt geltend machen können. Jetzt hat der Rat die 10 000 Euro beschlossen, ohne im Haushalt richtig hinzugucken. Infolgedessen kann man sich nachher aber nicht darüber aufregen, dass es so hoch ist.

Sie sehen einige Versäumnisse beim Kämmerer.

Ja, sicher. Aber auch der Stadtdirektor und der OB beziehungsweise deren Dezernate hätten früher eine Lösung finden müssen.

Im Mai hat Ihr Fraktionschef Spliethoff den OB im Beisein von Schindler und den SPD-Dezernenten Mendack und Ernst zum Rücktritt aufgefordert. Wie naiv ist das, wenn man nicht sicher sein kann, dass der OB der Rücktrittsforderung nachkommt?

Ich hätte mich mit der Verwaltung nicht gemein gemacht, das war schon ein gravierender politischer Fehler, allein von der politischen Hygiene her. Der OB hat die Vier eingeladen, um über seinen psychischen und gesundheitlichen Zustand zu sprechen. Was dann folgte, hat schon eine besondere Note. Die Vier haben den Spieß umgedreht, nach dem Motto: ,Der sitzt sowieso wacklig auf dem Hocker, jetzt schubsen wir ihn runter.’ Die haben aber nicht damit gerechnet, dass er Nein sagt. Ich hadere mit dem gesamten Vorgehen: Warum haben Sie es eigentlich so gemacht, wie sie es gemacht haben? Die mussten wissen, dass sie einen Menschen dabei zerbrechen könnten.

Nicht bedacht, dass der OB Rücktritt ablehnen könnte

Blinder Aktionismus?

Genau. Eines haben sie nicht bedacht: Wenn man einen von der Bürgerschaft gewählten OB da weg haben will, kann man das nur mit ihm und nicht gegen ihn machen.

Welche Motivation, welches Interesse steckt aus Ihrer Sicht dahinter, den OB zum Rücktritt aufzufordern, zumal aus den eigenen Reihen?

Ab einem gewissen Zeitpunkt war nur der Satz: Jetzt muss er weg. Das war, nachdem der OB zur Rücktrittsforderung Nein gesagt hat. Dass die Gegner des OB es jetzt eilig haben, ihn abzusägen, liegt daran, dass sie, so vermute ich, gemerkt haben, dass bei der staatsanwaltschaftlichen Untersuchung nicht viel herauskommt.

Ihre Fraktionsspitze und die SPD-Dezernenten haben mit ihrer Rücktrittsforderung beim OB eine Aktion ohne Absprachen in Fraktion und Partei gestartet.

Dieter Spliethoff (re.) ist der aktuelle SPD-Fraktionschef, Dieter Wiechering der alte. Hier überreichte Spliethoff seinem Vorgänger im Dezember 2017 den Friedrich-Wennmann-Preis.
Dieter Spliethoff (re.) ist der aktuelle SPD-Fraktionschef, Dieter Wiechering der alte. Hier überreichte Spliethoff seinem Vorgänger im Dezember 2017 den Friedrich-Wennmann-Preis. © Oliver Müller

Ich habe mich 23 Jahre bemüht, dass wir nicht wieder in die Kiste „Rotes Rathaus“ gesteckt werden. Jetzt kommen andere Fraktionen mit Hinweisen darauf wieder. Es war ein Fehler, dass die Dezernenten mitgegangen sind, als die Fraktionsspitze den Rücktritt des OB gefordert hat. Ich habe mir als Fraktionsvorsitzender auch nicht erlaubt, so ein Gespräch zu führen, ohne meine Stellvertreter und den Fraktionsvorstand zu informieren. Der nächste Fehler war, Jan und Mann zur Fraktionssitzung einzuladen. Das diente auch nur dazu, Parteiöffentlichkeit herzustellen.

Wiechering vermisst die politische Hygiene in seiner SPD

Gibt es denn eine saubere Lösung?

Nur die gewählten Stadtverordneten können darüber entscheiden, ob sie den OB abwählen wollen oder nicht. Klar: Die Partei kommt ins Spiel, weil sie ihn als Kandidaten aufgestellt hat. Wenn eine Abwahl beantragt wird, kann die Partei nicht außen vor gelassen werden. Der ­Parteitag muss zumindest eine ­Empfehlung an die Stadtver­ordneten geben, auch wenn diese dann nach ihrem Gewissen entscheiden. Das wäre politisch hygienisch. Aber ob das gemacht wird, weiß ich nicht.

Was kann Mülheims SPD jetzt tun?

Sich nicht weiter zerstreiten.

Das scheint derzeit kaum möglich.

Ich muss ehrlich sagen: Da bin ich ratlos. Es gibt auch keine Persönlichkeit, die da Ruhe hineinbringen könnte. Schon lange nicht freiwillig. Vielleicht muss man sich einen ausgebildeten Mediator holen.

Wiechering: Kommunalwahl wird für die SPD ein Desaster

Mit der seit Wochen andauernden Schlammschlacht um die OB-Affäre scheint die Kommunalwahl 2020 für Mülheims SPD schon verloren, oder sehen Sie das anders?

Dieter Wiechering: Ja. Egal ob der Oberbürgermeister nun abgewählt wird oder zurücktritt, wird es für die SPD ein Desaster. Frühestens bei einer eventuellen OB-Wahl, spätestens bei der Kommunalwahl.

Rechnen Sie mit einer vorzeitigen OB-Wahl?

Der Stadtverordnete Jochen Hartmann vom Bürgerlichen Aufbruch hat zweimal den Rücktritt gefordert. Wenn die Unterlagen am 15. August vorgelegt werden, wird er sich damit nicht zufrieden geben und gegebenenfalls einen Antrag auf ein Abwahlverfahren stellen.

Der BAMH mit seinen fünf Fraktionsmitgliedern kann alleine kein Abwahlverfahren beantragen, dazu bedarf es der Mehrheit im Rat.

Das hat natürlich hohe Hürden. Es kommt auf die Haltung der anderen Fraktionen an. Ob sich meine eigene Fraktion an Hartmann ranrobbt oder ob es umgekehrt ist, muss man sehen. Die CDU wird sicherlich das Interesse haben, den neuen OB zu stellen.

Arbeiten SPD und BAMH für OB-Sturz zusammen?

Glauben Sie, dass man dabei tatsächlich Herrn Hartmann als Vehikel nutzt? Da gibt es bei SPD und CDU doch reichlich Ressentiments.

Das ist natürlich richtig. Mein Eindruck ist aber, dass hinter dem Vorhang mehr passiert, als man denkt.

Erleben wir eine nie endende Schlammschlacht?

Die anderen Fraktionen sind nicht so unklug, dass sie die politische ­Lage nicht ausschlachten werden. Die CDU macht das, was ich auch tun würde und bei Dr. Baganz seinerzeit auch gemacht habe: zurücklehnen und zugucken. Die Grünen machen das auch. Und Hartmann von der BAMH profitiert sowieso von der ganzen Geschichte. Das wird aber in der SPD-Fraktion nicht gesehen.

Profitieren könnte auch Mülheims AfD.

Die habe ich jetzt nicht auf dem Zettel. Bei mir geht es jetzt um das Abwahlverfahren. Und bei der Kommunalwahl werden alle auf uns draufhauen, das ist doch ganz klar.

„Es schafft doch Politikverdrossenheit“

Aber ist das, was hier gerade passiert, nicht genau das, worauf die Rechte wartet?

Ja. Die ganze Angelegenheit schafft doch Politikverdrossenheit in der Bevölkerung. Da leiden wir alle drunter. Die SPD erst recht.

Wie wäre weiterer Schaden für die Stadt und das Ansehen der Kommunalpolitik abzuwenden?

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Abwenden kann man den nicht mehr. Der ist da. Ihn zu minimieren, wird schwierig. Zu Ende ist das erst nach der Kommunalwahl. Ich appelliere an alle Ratsmitglieder, zur Sacharbeit zurückzukehren.