Mülheim. Schafft die SPD mit OB-Kandidatin Monika Griefahn das Wahlwunder, das viele lange für undenkbar hielten? Griefahn bezieht Position im Interview.
Mit ihrer OB-Kandidatin Monika Griefahn hofft Mülheims SPD darauf, bei der Kommunalwahl am 13. September wie Phoenix aus der Asche zu kommen. Griefahns Credo: Wer Mülheim gestalten will, sollte verliebt sein ins Gelingen. Wir trafen Sie zum großen Wahl-Interview.
„Monika, was willst du dir da antun?“ Hat aus Ihrem engstem Familien- und Bekanntenkreis niemand die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als er von Ihrer Kandidatur erfahren hat?
Griefahn: (lacht) Nein, mein Mann sagte: Es ist ein Dienst an der Gemeinschaft. Das ist eigentlich genau das, was wir von Leuten erwarten: dass sie der Gemeinschaft etwas zurückgeben, wenn sie eine gute Möglichkeit haben zu existieren. So empfinde ich das auch. Die Demokratie ist gefährdet, es bricht alles ein bisschen auseinander. Ich möchte versuchen, die Menschen wieder zusammenzuführen, und eine positive Stimmung in die Stadt reinbringen.
Die Stadt ist heruntergewirtschaftet, hat 2,1 Milliarden Schulden, die Pro-Kopf-Verschuldung ist deutschlandweit fast unübertroffen. Der Abwärtstrend ist seit Jahren nicht gestoppt. Dazu die Affäre um den SPD-Oberbürgermeister Scholten, die noch mal kräftiger dafür gesorgt haben dürfte, dass die Wähler weiter an Zutrauen in die SPD verloren haben. Was nun?
Es ist vergangenes Jahr im September mit der Wahl eines neuen SPD-Vorstandes ein Neuanfang gemacht worden. Jetzt versucht diese junge, neue Führung, das Vertrauen wieder aufzubauen. Ich bin ein Teil davon. Wir tun unser Bestes zu zeigen, dass wir innovativ, sozial und ökologisch sind. Zu den Schulden: Wir brauchen natürlich mehr Einnahmen. Da will ich mich drum bemühen. Zum Beispiel haben wir zwei Max-Planck-Institute und die Hochschule. Das gibt unglaubliche Möglichkeiten, etwas damit zu gestalten. Bottrop hat es gezeigt mit der Innovation City. Das wollen wir auch. Es gibt unendlich Förderprogramme für solche Dinge, die will ich für Mülheim nutzen.
„Es geht darum, die Mülheimer Stadtgesellschaft wieder zusammenzuführen“
Welche Rolle hat Ex-Kanzleramtschef Bodo Hombach gespielt, um Sie nach Mülheim zu lotsen?
Der war eher überrascht. Er hatte keinen Einfluss.
Man erzählt sich, dass Hombach zur Bekanntgabe Ihrer Nominierung Kontakt zu überregionalen Medien vermittelt haben soll.
Das war, nachdem er erfahren hat, dass ich gefragt worden bin. Weil er gesagt hat: Das ist ja eine tolle Idee.
Wie eng sind Ihre Verbindungen noch zu Bodo Hombach?
Ich hatte ziemlich wenige. Ich kannte ihn noch als Kanzleramtschef, aber das ist ja nun auch schon 20 Jahre her.
Sie wollen Stadtgestaltung in höchst prekärer Lage mit einer Partei gestalten, die noch länger brauchen dürfte, um an einem Strang zu ziehen. Sie werden als SPD-OB nicht alleine auf Parteichef Bakum setzen können, um die SPD zu befrieden. Was wollen Sie dafür tun?
Ich glaube, es geht nicht darum, die SPD zu befrieden. Es geht darum, die Stadtgesellschaft wieder zusammenzuführen. Der nächste Rat wird nicht alleine aus der SPD bestehen, sondern aus vielen Fraktionen. Ich bin ein Mensch des Dialoges. Ich will mit möglichst vielen im Rat zusammenarbeiten, damit wir eine große Einheit hinbekommen, um die Stadt voranzubringen. Die Vorschläge, die ich habe, sind sehr konkret. Dafür will ich mehr Landes- und Bundesmittel als bisher in Anspruch nehmen und die Prioritäten neu setzen.
Eigenmittel müsste die klamme Stadt ja auch aufbringen.
Das ist richtig, aber das ist eine Frage der Prioritätensetzung. So wurde das Digitalprogramm für die Schulen in den vergangenen Jahren nicht abgerufen, weil die zehn Prozent Eigenmittel gefehlt haben. Man sieht jetzt, was das für Konsequenzen hat. Es war einer meiner Schockerlebnisse, als ich meine alte Schule, die Luisenschule, besucht habe. Sie ist wunderschön renoviert, aber sie hat keinen Wlan-Anschluss. Da ist einfach die Priorität falsch gesetzt worden. Die Digitalisierung in den Schulen und im Rathaus voranzubringen, ist jetzt vordringlich. Da müssen wir den Eigenanteil aufbringen.
Wo wollen Sie diesen Eigenanteil denn an anderer Stelle herholen?
Ich möchte gerne neue Unternehmen herholen und damit neue Steuereinnahmen generieren. Mein Programm greift da ineinander. Ich will ja nicht nur mit dem Status quo leben, sondern will auch neue, innovative Unternehmen hierher holen.
Die Steuereinnahmen werden aber nicht so schnell sprudeln wie Sie Tempo bei der Digitalisierung anmahnen.
So lange dauert es auch nicht. Am Flughafen etwa ist die Event-Halle schon konkret in Planung. Es gibt auch die Idee, am Flughafen einen Hub zu machen für solargetriebene Flugtaxis, die früher belächelt wurden, jetzt aber schon Realität in anderen Ländern sind. Hier ist genau der richtige Standort. Auch das bringt Steuereinnahmen. Es sind durchaus Ansätze da. Die muss man nun umsetzen.
Wie bewerten Sie die Baustelle, die Ihnen OB Scholten nach einer möglichen Wahl hinterlassen wird?
Ich bewerte die Vergangenheit nicht. Ich nehme das, was hier ist, und versuche jetzt mit den Bürgern und den Fraktionen, die dann im Stadtrat sind, einen Neuanfang zu machen. Ich will versuchen, im Rathaus eine positive Stimmung zu gestalten. Wir möchten ins Gelingen verliebt sein. Das muss die Haltung sein. Ich weiß, dass auch sehr viele Rathaus-Mitarbeiter darauf warten, dass Sie und Ihre Ideen positiv unterstützt werden.
Sie warten darauf, weil das vorher nicht passiert ist?
Ich habe aus vielen Gesprächen, die ich geführt habe, den Eindruck, dass viele Vorschläge versackt sind, weil nie eine Entscheidung getroffen worden ist. Es ist aber nicht alles schlecht gelaufen. Wir haben in der Pandemie ein gutes Management. Aber bei vielen Dingen, die Innovationen betreffen, sind viele Vorschläge nicht weitergegangen. Ich möchte jetzt dafür sorgen, dass Entscheidungen getroffen werden.
„Da sind viele gemeinsame Punkte mit den Grünen“
Im Wahlkampf fahren Sie einen auffälligen Kuschelkurs mit den Satirepolitikern von „Die Partei“. Kaum eine Woche vergeht, dass Sie nicht gemeinsame Fotos mit deren OB-Kandidat Andy Brings über die sozialen Netzwerke verbreiten. Hoffen Sie, dort könnten sich alle Wähler versammeln, die eigentlich der SPD nahestehen, aber die Nase von ihr gestrichen voll haben? Um nach der Wahl dann stickum die Vereinigung zu zelebrieren?
Die Aktionen mit Andy Brings waren keine Taktik. Wir verstehen uns einfach gut und haben viele gemeinsame Inhalte. Warum soll man sich immer nur abgrenzen? Warum nicht schauen, wo Gemeinsamkeiten sind? Das versuche ich insgesamt in der Stadt und im Stadtrat hinzubekommen.
Ihr Programm ist sehr grün. Werden Sie einen Versuch starten, Rot-Grün in Mülheim möglich zu machen?
Ich bin interessiert an allen, die ins Gelingen verliebt sind, die Zukunft gestalten wollen, die Mülheim voranbringen wollen. Da sind viele gemeinsame Punkte mit den Grünen: dass wir klimapositiv werden wollen, die Mobilität besser vernetzen wollen, Fahrradwege fördern wollen…
Andere beenden in Ihrem Alter das Berufsleben. Sie wollen mit 65 noch mal Verantwortung übernehmen. Um in Mülheim wieder Perspektiven zu schaffen, braucht es einen langen Atem. Reicht Ihr Atem über eine Wahlperiode hinaus?
Selbstverständlich. Wenn ich ein Projekt anfange, will ich es auch erfolgreich zu Ende führen. Ich glaube nicht, dass wir alles in fünf Jahren schaffen. Wenn die Bürger mir das Vertrauen wieder geben würden, würde ich auch wieder zur Verfügung stehen.
Sie wohnen mit Ihrem Mann Michael Braungart im niedersächsischen Buchholz. Er ist beruflich in Hamburg verankert. Werden Sie eine pendelnde Oberbürgermeisterin?
Nein. Mein Mann hat gesagt: Wenn es was wird, dann ziehen wir ganz hierher. Ich bin ja schon hierhin gezogen. Das Gute ist, dass er Professor an einer Uni ist und zumindest die Tage begrenzen kann, an denen er präsent sein muss. Wir waren schon vorher ein pendelndes Paar, das sich nicht jeden Tag gesehen hat. Er wird natürlich beruflich viel unterwegs sein. Ich werde aber hier vor Ort in Mülheim sein.
Sie haben dem Parteiprogramm ein Impulspapier zur Überwindung der Corona-Krise in der Stadt voranstellen lassen. Das ist in der Form einzigartig. Bringen Sie es auf den Punkt: Welche Herausforderung wird Corona der Stadt bringen, welche Antwort geben Sie?
Wichtig ist, dass wir erstens die Digitalisierung voranbringen, zweitens einen ständigen Krisenpräventionsrat haben. Drittens, dass wir uns um die psychosoziale Lage kümmern. Wir werden noch erleben, dass Corona uns richtig Schwierigkeiten macht, wenn es noch mehr Arbeitslose geben wird, noch mehr Insolvenzen oder noch mal Lockdowns, in denen Leute isoliert sind. Das alles ist eine psychisch sehr belastende Situation, insbesondere auch mit Blick auf die Kinderarmut. Die Kinder von ärmeren Familien bleiben zurück. Sie müssen wir besonders fördern. Als Letztes gehört dazu, dass wir die Wirtschaft fördern und Ansiedlungen schnell möglich machen.
Impulse aus Gesellschaft, Wirtschaft, Umweltverbänden und Gewerkschaften zusammenführen
Sie wollen einen Innovationsrat und Runde Tische für die Stadt installieren. Welche Impulse versprechen Sie sich davon?
Dass wir die Gesellschaft stärker zusammenbringen. Wir haben eine unglaublich engagierte Stadtgesellschaft mit vielen Ehrenamtlichen. Aber wir sollten so zusammen an Lösungen arbeiten, dass sie gewollt und nicht boykottiert werden. Es gilt, Impulse aus der Zivilgesellschaft, aus der Wirtschaft, aus den Umweltverbänden, aus den Gewerkschaften zusammenzuführen.
Haben Sie sich vor diesem Hintergrund mal die Entstehungsgeschichte zur Umplanung des Rathausmarktes angeschaut? Da gab es eine breite Bürgerbeteiligung, es gab viele Ideen – und am Ende steht ein unbelebter Platz mit Blech und Kiosk-Ruine.
Es ist nicht so umgesetzt, wie es sich die Bürger gewünscht haben.
So etwas wollen Sie ändern?
Natürlich. Man darf Leute, die Ideen und Inspiration einbringen, nicht frustrieren. Wir müssen da Energie reingeben. Dafür muss ich auch die Kollegen im Rathaus für eine neue Haltung begeistern: dass sie sich als Dienstleister verstehen, dass sie für den Bürger da sind. Viele wollen das, das gilt es jetzt zu unterstützen.
In der VHS-Frage hat die SPD kräftig neben dem Bürgerwillen gelegen. Wie wollen Sie die Situation heilen?
Zum Workshop der SPD haben wir den Architekten Teich und Herrn Wiesemann vom Essener Unperfekthaus eingeladen, damit wir Lösungen für die VHS entwickeln. Ich habe auch mit der HRW gesprochen, die Interesse hat, sich zu beteiligen. Das hätte den Vorteil, dass wir vielleicht eine zusätzliche Finanzierung vom Land bekämen. Wir wollen Räume haben, die für alle Bürger als Treffpunkt zur Verfügung stehen, denn das fehlt in dieser Stadt. Die VHS soll nicht nur Kurse bieten, sondern auch einen offenen Raum für Bürger. Wir wollen mit dem Architekten gleich nach der Wahl das Gebäude begehen. Wir haben besprochen, dass wir nicht nach dem Sanierungsgutachten der Stadt vorgehen wollen. Wir müssen keine Puppenstube aus der VHS machen, nicht alles auf den modernsten Stand bringen, wie es das 22-Millionen-Gutachten macht. Wir müssen nur die gesetzlichen Auflagen zu Brandschutz etc. erfüllen, da ist die Renovierung vielleicht um ein Vielfaches preiswerter als im Gutachten vom Kämmerer.
Heißt das, Sie wollen ein neues Gutachten machen lassen?
Nein. Herr Teich hat angeboten, eine kostenlose Bewertung von einem unabhängigen Büro auf eigene Kosten machen zu lassen, was man renovieren muss, um die gesetzlichen Auflagen zu erfüllen.
Da widersprechen Sie aber sehr der vorherigen SPD-Linie, wenn Sie Herrn Teich beteiligen wollen. Kämmerer und Immobiliendezernent Mendack wollte dem OB den Schlüssel wegnehmen, wenn dieser Herrn Teich hätte ins Gebäude lassen wollen.
Das werden wir dann sehen. Auch eine Oberbürgermeisterin muss die Möglichkeit haben, sich die Dinge selbst anzuschauen und eine Bewertung zu bekommen von dem Architekten, der das Gebäude entworfen hat. Der im Übrigen auch durch das Urheberrecht ein Recht darauf hat.
Auch eine Polizeiwache in Styrum hat die SPD-Ratsfraktion zunächst reflexhaft abgelehnt. Zuletzt hat die Partei umgeschwenkt. Was will die SPD nun?
Ich habe vorgeschlagen, dass wir die Ordnungspartnerschaft, wie wir sie in der Stadtwache haben, in die Stadtteile bringen. Das könnte man eben auch in Styrum machen, mit Mitarbeitern von Polizei und Ordnungsamt, die häufig auf Streife gehen. Es geht nicht um ein Gebäude, das 24 Stunden besetzt ist. Es geht darum, dass Polizei und Ordnungsamt das, was schiefläuft, direkt ahnden.
Was nun? Das kann man auch zur ÖPNV-Zukunft fragen. Mit CDU und Grünen hat die SPD einen Haushaltsplan verabschiedet, der bis 2023 strukturelle Einsparungen von 7 Millionen Euro jährlich vorsieht. Zwei Millionen sind schon für 2021 eingeplant, nur hat sich auch die SPD vor der Wahl weggeduckt und nicht gesagt, wo genau das Geld nun eingespart werden soll. Also: Was nun?
Die Mobilität müssen wir uns neu anschauen. Wir brauchen einen neuen Nahverkehrsplan. Wir müssen diskutieren, wie wir welche Stadtteile neu anbinden. Dass wir einen besseren ÖPNV brauchen, ist klar. Wir brauchen eine bessere Vernetzung mit dem Radverkehr, mit dem Fußverkehr und mit Mobilitätsstationen, an denen man leicht umsteigen kann. Dafür braucht man neue Kostenberechnungen. Das kann auch Einsparungen bringen, wenn man auf Dinge verzichtet, die nicht so gut benutzt werden wie sie müssten, um wirtschaftlich zu sein. Wenn man etwa Rufbusse oder Ruftaxis in das Angebot integriert. Das wird nicht in einem Jahr umgesetzt sein. Aber wir sollten anfangen, damit wir überhaupt erst mal sehen, was wir brauchen. Es wird nicht funktionieren, erst mal alles stillzulegen, einzusparen und dann zu sagen, wir müssen einen neuen ÖPNV haben.
„Es braucht eine Führung, eine Oberbürgermeisterin, die Entscheidungen forciert“
Das hört man schon seit zehn Jahren. Aber es kommt zu keiner Entscheidung. Der Kämmerer braucht aber im nächsten Jahr die zwei Millionen Euro Einsparung, die ihre Partei mitbeschlossen hat.
Das ist der Punkt: Die Entscheidungen sind nicht da. Dafür braucht es endlich eine Führung, eine Oberbürgermeisterin, die diese Entscheidungen forciert. Das habe ich mir vorgenommen.
Mehr als 30 Millionen Euro beträgt das jährliche Defizit des Mülheimer ÖPNV-Betriebs. Insbesondere die Schieneninfrastruktur kommt die Stadt teuer zu stehen. Die SPD verfolgt derweil weiter den Plan für eine Straßenbahn nach Saarn. Wie passt das zusammen?
Man muss das Gesamtkonzept neu denken, weil es heute viele andere Möglichkeiten gibt, den Verkehr bedarfsgerecht zu organisieren. Etwa in Stoßzeiten zusätzliche Möglichkeiten zu haben, etwa durch elektrobetriebene Kleinbusse in Stadtteilen, wo die Anbindung im Moment so kompliziert ist, etwa in Mintard. Auch an klimafreundlichen Wasserstoff-Bussen ist die Ruhrbahn dran, da müssen wir jetzt einfach mal hin. Im ganzen Kontext der Klimafreundlichkeit muss man auch dieses Verkehrssystem betrachten und schauen, ob da die Straßenbahn das Richtige ist oder etwas anderes, das flexibler ist.
Heißt das, dass Sie keine Straßenbahn nach Saarn wollen?
Ich habe mich da bislang nicht festgelegt. Man muss Vor- und Nachteile diskutieren. Aber man hat die Flexibilität sicher nicht so, wie wir es eigentlich brauchen, wenn man eine Straßenbahn nach Saarn baut.
Zur Gewerbeflächendebatte: Die SPD spricht sich gegen Versiegelung aus. Parteichef Bakum äußerte jüngst aber den Willen, Pläne für 70 Hektar Gewerbegebiet auf den Saarn-Selbecker Höhen weiterverfolgen zu wollen. Kein Widerspruch?
Nein. Es gibt ja Gewerbegebiete, etwa am Amsterdamer Flughafen, wo nachher mehr Artenvielfalt, mehr Grünfläche war als vorher. Wenn man reine Fläche hat und nachher was mit Begrünung, mit Solar- und Windenergie oder was auch immer, hat man auch eine stärkere Vergrünung.
Das urbane Grün durch Baumschutz- und Baumpflanzaktionen ausweiten
Sie wollen für einen Ausgleich von Ökologie und Ökonomie stehen, fordern ein 1000-Dächer-Programm für Photovoltaik ebenso wie Experimentierräume für einen „neuen urbanen Wohlstand“. Kriegen Sie Ihre Vorstellungen auf den Punkt gebracht?
Das 1000-Dächer-Programm ist ganz einfach: Wir haben unglaublich viele Flächen in Mülheim, die noch nicht genutzt sind. Wir haben engagierte Bürger, die Medl, die das drauf hat, und Bürgerenergiegenossenschaften. Es gibt Potenziale, wo Leute schon bereit sind, Solarenergie zu installieren. Gleichzeitig sollten wir das urbane Grün ausweiten, durch Baumpflanz- und Baumschutzaktionen.
Zur Gründung einer Stadtentwicklungsgesellschaft: Die Forderung hat 2017 der damalige SPD-Fraktionschef Dieter Wiechering aufgestellt. Wie soll diese Gesellschaft Ihrer Meinung nach aufgestellt sein?
Sie sollte aus der Kommune mit privaten Partnern, natürlich auch den Wohnungsbaugesellschaften und der Sparkasse, gestaltet werden. Wir müssen materielle Werte in Form von Grundstücken reinlegen, damit wir gleichzeitig Geld aufnehmen können. Auch die Sparkasse hat 100 Millionen Euro rumliegen, für die sie Negativzinsen bezahlen muss. Mit dem Geld könnte sie marode Gebäude im Innenstadtbereich aufkaufen, die wir dann sanieren und zur Verfügung stellen können für Wohnraum, um eine Durchmischung der Bewohnerschaft zu fördern. Ich wünsche mir, die Häuser nicht einfach zu kaufen und wieder mit Gewinn zu verkaufen, sondern sie als Stadtentwicklungsgesellschaft zu bewirtschaften, damit wir auch gegen Gentrifizierung oder dagegen, dass alles immer teurer wird, angehen. Das kann mit anderen Maßnahmen – Kultur, Events, Gastronomie – eine Innenstadtentwicklung wieder vorantreiben. Geschäfte wird Mülheim nicht mehr so viele brauchen, weil die Leute eh bei Amazon einkaufen. Wir brauchen die Geschäfte, die speziell sind. Eine Super-Initiative war dafür die mit den Pop-Up-Stores.
Gelsenkirchen konnte für seine Stadtentwicklungsgesellschaft den Verkaufserlös für eine riesige Industriebrache einbringen. Was hätte Mülheim denn groß einzubringen?
Wir haben ungefähr zehn Hektar zur Verfügung. Das ist nicht ein Grundstück wie in Gelsenkirchen und auch nichts, was wir vermarkten wollen. Aber es könnte unsere Kapitalgrundlage sein, um Kredite aufnehmen zu können.
Sie wollen jetzt keine konkreten Grundstücke benennen?
Nein.
Ihr Programm ist reich an Versprechungen, ein Interview ist endlich. Wählen Sie mal aus, zu welchem der folgenden Themen Sie Ihre Vorstellungen ausführen wollen: Bekämpfung der Kinderarmut, Schaffung bezahlbaren Wohnraums, Rekommunalisierung?
Kinderarmut ist ein wichtiges Thema. Dass in einer Stadt wie Mülheim an der Ruhr 27,2 Prozent der Kinder von Armut betroffen sind – der Bundesschnitt liegt bei 21 Prozent –, ist beschämend, wenn wir gleichzeitig auch viele reiche Bürger haben. Die Kinder brauchen unsere Hilfe: die Digitalisierung der Schulen, der sichere Ausbau der offenen Ganztagsschule und der Kindertagesstätten, wo die Jüngsten gefördert werden können, damit sie später im Berufsleben stehen können. Kinderarmut ist auch Familienarmut. Wenn die Familien den Kindern nicht helfen oder ihnen keinen guten Start bieten können, dann haben wir später möglicherweise Hartz-IV-Karrieren. Deswegen ist die Förderung so früh ganz wichtig. Dazu gehört auch der bezahlbare Wohnraum. Wir wollen 2000 neue Wohneinheiten für Familien, für Alleinerziehende, für Alleinstehende bis 2030 schaffen.
Noch mal eingehakt zu Ihren Vorschlägen zur Bekämpfung der Kinderarmut – das klingt nach Hannelore Kraft, die hatte das Credo: Wer präventiv Geld ausgibt, wird später Geld einsparen in Form von Sozialleistungen. Das hoch verschuldete Mülheim wird so aber wohl kaum gegenüber der Finanzaufsicht der Bezirksregierung argumentieren können. Mülheims Ausgaben sind gedeckelt. Woher wollen Sie das Geld nehmen?
Ich sage nur: Wenn wir 27 statt 21 Prozent haben, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es nach Corona noch mehr werden. Das muss man mit Bund und Land besprechen. Ich werde die oberste Lobbyistin von Mülheim sein beim Land, beim Bund und in Europa, um die vorhandenen Mittel für alle möglichen Programme abzugreifen, damit wir was machen können. Eben auch im Sozialbereich.
Es gibt immer noch das Problem des Eigenanteils der Kommunen bei Förderprogrammen.
Ja. Aber es gibt 90-, mittlerweile auch 100-Prozent-Finanzierungen. Wenn wir zehn Prozent nicht aufbringen, haben wir mehr verloren und später mehr Schulden, weil wir Folgekosten im Bereich des SGB II haben. Deswegen ist es wesentlich, Leute in Arbeit zu bringen und Firmen anzuwerben. Jeder, der arbeitet, fällt als Kostenfaktor weg und zahlt vielleicht sogar Steuern.