Mülheim. Annette Friese leitet die Zentrale Notaufnahme des Evangelischen Krankenhauses in Mülheim. Sie berichtet von der angespannten Lage in Kliniken.

Die Zahl der Corona-Infizierten steigt, Mülheim galt mit einer Inzidenz von zeitweise über 200 sogar als Hotspot. Dementsprechend angespannt ist die Lage in den beiden Krankenhäusern der Stadt. Dr. Annette Friese ist Chefärztin der Zentralen Notaufnahme am Evangelischen Krankenhaus (EKM) und berichtet, unter welcher Belastung sie und ihr Team täglich arbeiten.

Wie sieht die Lage auf den Stationen, insbesondere auf der Intensivstation aus?

Annette Friese: Die aktuelle Lage muss man immer im Kontext der Gesamtsituation sehen: Wir befinden uns in Monat elf der Pandemie. Am 23. März kam unser erster Corona-Patient ins Krankenhaus. Seit einigen Wochen sehen wir einen rapiden Anstieg: Hatten wir am 5. Oktober den 66. Covid-Patienten, zählen wir heute am 11. Dezember den 256. Patienten. Es gab seit Anfang Oktober einen langsamen, dann einen exponentiellen Anstieg. Von einer Woche auf die andere war es erst ein Patient mehr, dann kamen drei neue hinzu, dann 13, dann hat es sich bei 20 bis 25 Neuaufnahmen pro Woche gehalten. Nun haben wir allein seit Montag 33 neue Covid-Fälle im EKM.

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Wie viele von diesen Patienten müssen intensivmedizinisch behandelt werden?

Aktuell haben wir in beiden Krankenhäusern 92 stationär behandlungsbedürftige Patienten mit Covid 19. Von diesen 92 sind aktuell neun Patienten auf den Intensivstationen der beiden Mülheimer Kliniken, fünf im St. Marien-Hospital, vier bei uns im EKM. Von unseren vier Intensiv-Patienten wird aktuell einer beatmet. Diese Zahlen spiegeln die Lage in ganz NRW und in ganz Deutschland wider.

Annette Friese, Chefärztin der Zentralen Notaufnahme im Ev. Krankenhaus Mülheim und Mitglied des städtischen Krisenstabs.
Annette Friese, Chefärztin der Zentralen Notaufnahme im Ev. Krankenhaus Mülheim und Mitglied des städtischen Krisenstabs. © Foto: Ategris

Wer ist am häufigsten von schweren Verläufen betroffen?

Die Krankheitsverläufe sind bei den Älteren meist schlimmer als bei den Jüngeren. Zudem gilt: Je mehr Vorerkrankungen Sie haben, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit für einen dramatischen Verlauf, etwa Übergewicht, Diabetes, Bluthochdruck, bestehende Lungenerkrankungen. Wir hatten aber alle Altersstufen hier im Krankenhaus vertreten. Die jüngste Patientin war gerade über 20, der Älteste war 95 Jahre alt. Es sind jedoch überwiegend die Älteren, die stationäre Hilfe brauchen. Aber wir hatten auch schon dramatische Verläufe bei Menschen zwischen 40 und 60 Jahre sowie 60 und 80 Jahre. Davon sind etwa 55 Prozent Männer, 45 Prozent Frauen.

Wie aufwendig ist die Behandlung eines schweren Covid-19-Falls?

Die pflegerische Versorgung eines Intensivpatienten ist aufwendig und langwierig, es gibt viele Schläuche, viele Kabel, die Patienten ringen um Luft. Wenn jemand beatmet wird, ist er sediert, so dass er die Beatmung über sich ergehen lässt. Man muss ihn dann lagern und bewegen, auf den Rücken, Bauch, auf die Seite drehen. Ärztliche Untersuchungen und pflegerische Maßnahmen oder eine Fahrt zur Computertomographie sind genauestens zu planen und binden mehrere Pflegekräfte und Ärzte über einen längeren Zeitraum. Unsere Schutzkleidung ist beschichtet, als würden Sie in einer Plastikhülle arbeiten. Man schwitzt, es ist körperlich anstrengend, die Schutzausrüstung darf nicht verrutschen, Sie können sich nicht einmal kratzen.

Aber auch Verdachtsfälle zu betreuen, ist ein hoher Aufwand. Wir gehen ja bis zum Beweis des Gegenteils davon aus, dass der Patient positiv ist. Auch dieser Bereich wird in voller Schutzausrüstung versorgt. Die Abklärungspatienten liegen alleine, bis das Ergebnis klar ist. Wir haben ca. 10 bis 20 Abklärungsfälle pro Tag, die wir nach etwa 24 Stunden dann von der Isolierstation in einen anderen Bereich verlegen können.


Liegen die Covid-Patienten auf der Intensivstation isoliert?

Alle Patienten mit einer Covid-19 Erkrankung werden isoliert. Es können aber zwei Covid-19-Fälle in einem Zimmer liegen, sowohl auf der Intensiv- wie auf der normalen Station. Dafür gibt es bestimmte Kriterien, die erfüllt sein müssen. Das ist manchmal gar nicht schlecht, da die Patienten nicht mehr alleine sind und sozialen Kontakt in der Erkrankung haben.


Wann hätten Sie die Kapazitätsgrenze erreicht?

Wenn die Betten für den Covid-Bereich belegt sind, müssen wir ein Stück weiterziehen und den Isolationsbereich vergrößern sowie Patenten mit den gleichen Krankheitsbildern zusammenlegen. So wird Tag für Tag die Lage neu bewertet. Der Krisenstab des Krankenhauses ist täglich in Absprache.

Wie sieht die personelle Lage aus? Arbeiten Sie und Ihre Kollegen am Limit?

Das Bild, das Krankenschwestern und Ärzte in den sozialen Medien und auch Prof. Uwe Janssens, Sprecher der DIVI, öffentlich teilen, entspricht auch unserer Situation. Unsere Mitarbeiter in der Pflege und die behandelnden Ärzte leisten hier ununterbrochen, Tag für Tag, Nacht für Nacht, Außergewöhnliches – schwerste Arbeit unter zum Teil physisch und psychisch massiv belastenden Momenten und Situationen.

Unsere Mitarbeiter setzen sich dem Risiko der Infektion aus. Auch sie infizieren sich, zum Teil in ihrer Freizeit, zum Teil auch bei ihrer Tätigkeit im Krankenhaus. Das gleiche gilt für unsere Patienten: Auch da haben wir jede Form der Infektion, die im Moment nicht mehr einem bestimmten Ereignis zugeordnet werden kann, wie damals bei Ischgl. Personell wird es also schwieriger.

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Wir arbeiten seit langem in bestimmten Bereichen mit FFP2-Masken, jetzt bei ansteigenden Zahlen noch in mehr Bereichen. Das ist sehr belastend. Die normale Bevölkerung stöhnt darüber, dass sie eine Mund-Nase-Bedeckung beim Einkaufen tragen muss. Unsere Mitarbeiter müssen acht Stunden damit arbeiten. Jeder Arbeitstag hat zehn bis 14 Stunden. Keiner von uns hat in diesem Ausmaß jemals so gearbeitet.

Leidet die medizinische Versorgung in der Corona-Zeit?

Unser Ziel ist es, dass jeder, der medizinische Hilfe braucht, diese auch bekommt. Dafür haben wir vieles umgestellt, etwa die Notaufnahme abgetrennt, dafür waren einige bauliche Veränderungen nötig. So können wir die Covid-Verdachtsfälle von den anderen Patienten im Aufnahmeprozess trennen. Auch die Versorgung nicht dringlicher medizinischer Eingriffe hat bislang weiter stattgefunden. Vielleicht nicht immer an dem Tag, den Patient oder Operateur bevorzugt hätten. Manche Termine mussten auch ad hoc verschoben werden. Dennoch ist die Versorgung immer gewährleistet.

Wie ist der Ablauf in der Notaufnahme wenn ein neuer Patient reinkommt?

Alle Patienten, die notfallmäßig kommen, werden bei Aufnahme abgestrichen und dann je nach Krankengeschichte, Untersuchungsbefund und Risikobewertung bis zum Erhalt des Testergebnisses im Einzelzimmer isoliert. Patienten ohne weiteren Risikofaktor oder Anzeichen einer Infektion kommen in den normalen Bereich, am nächsten Tag ist dann das Testergebnis da.

Viele Leute trauen sich derzeit aus Angst vor Ansteckung nicht in die Notaufnahme. Ist diese Sorge berechtigt?

Zur Person

Annette Friese ist Ärztin für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin. Seit dem 23. September 2019 ist die 51-Jährige Chefärztin der Zentralen Notaufnahme im EKM. Zuvor war sie neun Jahre Oberärztin in der Kardiologie im EKM sowie im Ev. Krankenhaus Oberhausen. Als die Corona-Pandemie ausbrach, wurde sie in den Krisenstab der Stadt entsandt als Bindeglied zwischen Krankenhaus und Stadt.

Ob über die Weihnachtsfeiertage Besuche im EKM erlaubt sein werden, sei aufgrund des nicht absehbaren Verlaufs der Infektionen noch nicht sicher, so Klinik-Sprecherin Silke Sauerwein. Vermutlich wird eine endgültige Entscheidung darüber erst kurz vor Weihnachten fallen. Wie bereits zu Ostern soll es auch zu Weihnachten möglich sein, Geschenke an der Information abzugeben.

Wir tun alles, um den Aufenthalt so sicher wie möglich zu machen. Indem wir die Krankengeschichte und das persönliche Risiko des Patienten erfragen, Abstriche machen, Patienten und Mitarbeiter nach gewissen Kriterien testen. Der Schaden, den ein Patient erleiden kann, wenn er eine bestimmte Erkrankung verschleppt, ist ungleich höher als das Risiko sich anzustecken. Wenn ich Brustschmerzen habe, kann sich dahinter ein Herzinfarkt verstecken. Wenn ich plötzlich eine Sprachstörung habe, kann sich dahinter ein Schlaganfall verstecken. Diese Dinge gehören jetzt genauso abgeklärt wie sonst auch. Alle Ärzte, auch die niedergelassenen, fordern die Patienten auf, auf keinen Fall in einer solchen Situation zu Hause zu bleiben, sondern den Hausarzt aufzusuchen und in akuten Fällen den Rettungsdienst zu rufen.


Richten Sie sich auf einen erneuten Anstieg der Fallzahlen nach den Weihnachtsfeiertagen ein?

Ja. Wenn die Mülheimer Bevölkerung nicht noch disziplinierter, strenger und konsequenter mit sich selber in Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregeln ist, werden die Zahlen weiter ansteigen. Wenn die Weihnachtsfeiertage dazu genutzt werden, im großen Kreis generationsübergreifend diese Regeln zu lockern, befürchte ich, dass wir nach Weihnachten einen deutlichen Anstieg der Zahlen im ganzen Land, in Mülheim und auch in unseren Krankenhäusern haben werden.

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Wie können Sie sich darauf vorbereiten?

Indem wir alles, was geht, abarbeiten. Wir sind in täglicher Besprechung mit der Pflegedirektion, der Betriebsleitung, dem Ärztlichen Direktorium, um alle Bereiche zu steuern. So dass wir immer genügend Ärzte und Pflegepersonal für Patienten haben. Aber am Ende liegt es in der Hand der Bevölkerung.

Jeder Kontakt, der nicht notwendig ist, sollte vermieden werden. Es fällt mir schwer, Bilder im Fernsehen vom Black Friday zu sehen, wo Menschen in einer Schlange stehen, um irgendwelche Sonderangebote zu ergattern – so funktioniert die Reduktion der Neuinfektionen einfach nicht. Daher mein dringender Appell an alle Mülheimer: Minimieren Sie die Kontakte!


Sie haben jeden Tag die Patienten vor Augen und sehen die teilweise schweren Krankheitsverläufe – macht Sie solches Verhalten wütend?

Ich kann es nicht verstehen. Denn ich sehe, wie viel Schmerz und Leid diese Erkrankung über Familien, Freundeskreise, Partnerschaften bringt. Mir fällt es auch schwer, auf meinen Freundeskreis, auf Geselligkeit zu verzichten. Es fällt mir auch schwer, dass ich nicht mit meinen Eltern in den Weihnachtsgottesdienst gehen kann. Wir überlegen, wie wir es schaffen, an Heilig Abend unsere Eltern, die auch über 80 sind, nicht zu gefährden. Das bekommt man nur hin durch Disziplin und Verzicht.


Wann rechnen Sie mit einer Entspannung der Lage?

Das Impfzentrum der Stadt wird ja gerade eingerichtet. Wir gehen davon aus, dass zum Ende des Jahres die Zulassung des Impfstoffs durch die Europäische Behörde erteilt wird und im neuen Jahr mit den Impfungen begonnen wird. Bis alle, die es möchten, geimpft sind, wird es mehrere Monate dauern. Solange werden wir uns alle weiter an die Regeln halten müssen.

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Werden Sie sich auch impfen lassen?

Selbstverständlich. Denn ich habe die Patienten auf der Intensivstation gesehen und erlebt, welches Leid diese Erkrankung bringt.