Mülheim. Hans Meinolf war in seiner aktiven Zeit die Personifizierung des Arbeitnehmer-Flügels in der SPD. Heute wird er 90 Jahre alt – und blickt zurück.

Er war in seiner aktiven Zeit die Personifizierung des Arbeitnehmer-Flügels in der SPD. Was hat Hans Meinolf, der am 1. November 90 Jahre alt wird, uns Mülheimern und seinen sozialdemokratischen Genossen mit auf den Weg in die Zukunft zu geben? Ein Zeitzeugengespräch.

Warum sind Sie Sozialdemokrat geworden?

Ich habe als Jugendvertreter im Betriebsrat der Mülheimer Röhrenwerke ab 1949 die verschiedenen parteipolitischen Facetten kennen gelernt und bin dann zwei Jahre später in die SPD eingetreten, weil ich in ihr die Partei sah, die am ehesten dafür einstand, die Lebensverhältnisse breiter Bevölkerungsschichten zu verbessern.

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Was hat Sie politisch angetrieben?

Die starke Bindung zu meinen Kollegen, die mich als Betriebsrat immer wieder mit großer Mehrheit gewählt haben. Das hat mir in der politischen Auseinandersetzung den Rücken gestärkt. Ich hatte immer den direkten Kontakt zur Basis und habe dabei immer die ganz konkreten Lebensbedingungen der Menschen vor Augen gehabt. Schon als Lehrling kam ich viel in Mülheim rum und habe die Probleme der unterschiedlichen Bevölkerungsschichten kennen gelernt.

Wie hat sich die Mülheimer Stadtgesellschaft in Ihrer Rückschau verändert?

Mich stört heute die große Ich-Bezogenheit. Ich erkenne nicht mehr den gesellschaftlichen Zusammenhalt, wie ich ihn noch in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt habe. Es tut dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft nicht gut, wenn das Ich größer geschrieben wird als das Wir. Auch die Corona-Pandemie werden wir nur überwinden, wenn wir uns gemeinsam an die Sicherheits- und Hygieneregeln halten.

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Was missfällt Ihnen an der Individualisierung unserer Gesellschaft?

Als ehemaliger Betriebsrat bin und bleibe ich ein Anhänger der kollektiven Mitbestimmung. Es gab schon früher Leute, die eine Individualisierung der betrieblichen Mitbestimmung gefordert haben. Doch das war und ist in meinen Augen ein Trugschluss. Denn bei einer individualisierten Mitbestimmung wird der Arbeitgeber sein Recht des Stärkeren immer gegen den einzelnen Arbeitnehmer durchsetzen. Ich sehe heute mit Sorge, dass bestimmte Unternehmen versuchen, ihre Betriebsräte abzuschaffen und auch aus ihrem eigenen Arbeitgeberverband und damit aus den Tarifverträgen auszusteigen. Das war früher anders. Da war es für Arbeitnehmer und Arbeitgeber ein ungeschriebenes Gesetz, sich in einem Verband zu organisieren und damit im Rahmen der Tarifpartnerschaft den sozialen Frieden zu fördern.

Warum hat die SPD auch in Mülheim so dramatisch an Zuspruch verloren?

Das hat mit dem Verlust von Industriearbeitsplätzen zu tun. Wo es noch in den 1970er Jahren in Mülheim insgesamt rund 25.000 Industriearbeiter gab, sind es heute insgesamt vielleicht noch 6500. Da ist der SPD eine breite Anhängerschaft verloren gegangen.

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Wie kann Ihre Partei, die über lange Zeit mit absoluter Mehrheit regiert hat, Anhänger zurückgewinnen?

Das Thema Arbeit und Auskommen für die Menschen in unserer Stadt muss wieder stärker in den Mittelpunkt gerückt werden. Das geht nicht ohne ein starkes Kollektiv. Wir müssen anerkennen, dass Kollektivismus und politische Macht nichts grundsätzlich Schlechtes sind, sondern im Gegenteil. Beides kann im besten Sinne des Wortes unsere Gesellschaft zusammenhalten. Ich habe manchmal den Eindruck, dass diejenigen, die die politischen Machtstrukturen mit der Forderung „Privat vor Staat“ in Frage stellen, diejenigen sind, die die eigentliche Macht in unserer Gesellschaft ausüben und dies verschleiern wollen.

Brauchen wir einen politischen Paradigmenwechsel?

Politik und Gesellschaft müssen sich stärker um die arbeitende Bevölkerung und um Arbeitsplätze kümmern. Die politische Diskussion muss wieder erfolgsorientiert geführt werden. Wer sich für die Schaffung von Gewerbeflächen ausspricht, darf nicht gleich als Klima- und Umwelt-Killer abgestempelt werden. Denn nur wenn Menschen Arbeit haben und Steuern zahlen können, können wir auch unsere Sozialleistungen finanzieren. Deshalb muss unsere Politik immer auch auf ihre Folgen für die Arbeitnehmer und ihre Arbeitsplätze überprüft werden. Gesellschaftlicher Fortschritt darf nicht auf Kosten der Arbeitnehmer gehen, wenn wir sozial stabil und wirtschaftlich stark bleiben wollen. Auch der Ausstieg aus dem sozialen Wohnungsbau und die Privatisierung von öffentlich geförderten Wohnraum war in diesem Zusammenhang ein großer Fehler.

Ist die Mülheimer SPD von der stärksten zur drittstärksten Ratsfraktion abgestiegen, weil sie nicht arbeitnehmerfreundlich genug war?

Johannes Rau hat uns schon in den 1970er Jahren gesagt: ‚Die besten Plakate nützen nichts, wenn wir nicht mit den Menschen im Gespräch bleiben!‘ Wenn man heute glaubt, dass man Wahlen und Wähler nur mit dem Computer gewinnen kann und es darüber versäumt, mit den Menschen im Gespräch zu bleiben, hat man schon verloren.

Viele Mülheimer sehen die letzten fünf Jahre als verlorene Jahre für unsere Stadt an und lasten dies vor allem der SPD und ihrem OB Ulrich Scholten an...

Die Krise, in die unsere Stadt geraten ist, wird der SPD angelastet, weil sie ihren Ausgang bei den Sozialdemokraten genommen hat, die ihrem Oberbürgermeister Ulrich Scholten, mit dem wir 2015 eine Wahl deutlich gewonnen haben, ein Mindestmaß an Gefolgschaft verweigert haben. Das hätte es zu meiner aktiven Zeit an der Fraktionsspitze so nicht gegeben.

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Die SPD hatte Ulrich Scholten zu ihrem Vorsitzenden und zu ihrem OB-Kandidaten gewählt. Und dazu gehörten auch jene, die indirekt zu seinem Sturz beigetragen haben. Sicher hat Ulrich Scholten auch einige Fehler gemacht. Nicht nur in der SPD, sondern in unserer Gesellschaft sprechen die Leute auf Facebook übereinander, statt zum Beispiel bei Parteitagen Auge in Auge persönlich um politische Lösungen zu ringen.

Ich bin Pragmatiker. Man kann nur dann etwas für Menschen bewegen, wenn man in der politischen Verantwortung mit am Rad dreht. Macht ausüben ist immer auch Arbeit. Und Arbeitsplätze sind das Wichtigste, was wir Menschen als Gesellschaft bieten können. Denn wir müssen arbeiten, um als Gesellschaft sozial und wirtschaftlich zu bestehen. Und wir können als Sozialdemokraten nur dann im positiven Sinne an alte Zeiten anknüpfen, wenn wir unsere Stammwählerschaft, unsere Basis, nicht vergessen und deshalb Arbeitsplätze und Arbeitnehmer in den Mittelpunkt unserer Politik stellen.

Zur Person: Hans Meinolf

Hans Meinolf wuchs als Sohn eines kommunistischen Metallarbeiters in Mülheim auf.
Hans Meinolf wuchs als Sohn eines kommunistischen Metallarbeiters in Mülheim auf. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Hans Meinolf wurde am 1. November 1930 als Sohn eines damals kommunistischen Metallarbeiters in Mülheim geboren. Er wuchs mit drei Geschwistern auf. Mit seiner vor vier Jahren verstorbenen Ehefrau Johanna war er fast 60 Jahre verheiratet und hat sie bis zu ihrem Tod zu Hause gepflegt. Er ist Vater einer Tochter, Großvater und Urgroßvater.

Der gelernte Elektromaschinenbauer arbeitete zunächst bei der Firma Rosarius, später bei den Mülheimer Röhrenwerken. Dort war er Jugendvertreter und dann Betriebsrat und Leiter des betriebsinternen Wohnungsbüros.

Von 1975 bis 1999 im Rat der Stadt Mülheim

1951 trat er in die SPD ein und baute bei den Mannesmannröhrenwerken die mitgliederstärkste SPD-Betriebsgruppe der Bundesrepublik auf. 1965 entsandte ihn die SPD als sachkundigen Bürger in den Schulausschuss. 1975 zog er als Nachfolger von Luise Vosshagen in den Rat der Stadt ein, den er bis 1999 angehören sollte.

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Als Nachfolger von Friedrich Wennmann führte er von 1989 bis 1994 die SPD-Ratsfraktion an. Auf dem Höhepunkt seiner kommunalpolitischen Laufbahn hatte die Mülheimer SPD mehr als 5000 Mitglieder, davon 1300 Betriebsangehörige der Mannesmann-Röhrenwerke. Bei der Kommunalwahl vom 13. September 2020 wurde sein Enkel Sven Deege für die SPD in den Rat der Stadt gewählt.