Mülheim. . Heute vor genau 50 Jahren trat SPD-Kanzlerkandidat Willy Brandt vor dem Mülheimer Rathaus auf. Damals kamen noch Massen.

Regenwolken ziehen an diesem Tag immer wieder über Mülheim hinweg. Aber es bleibt trocken. Tausende haben sich auf dem Rathausmarkt vor den Arkaden versammelt. Eine Feuerwehrkapelle spielt. Als sich die Rathaustür endlich öffnet, brandet Beifall auf: Willy Brand, Regierender Berliner Bürgermeister und Kanzlerkandidat der SPD, tritt heraus. Es ist auf den Tag 50 Jahre her. Einer, der mitten auf dem Platz steht, ist der Mülheimer Sozialdemokrat Hans Meinolf.

„Es war das erste Mal, dass ich Brandt live erlebt habe. Es war ein faszinierender Auftritt“, erinnert sich Meinolf heute an jene Wahlkampfveranstaltung, die noch die Massen bewegte. „Die Gesellschaft war damals ausgerichtet auf eine bessere Zukunft. Jeder spürte, es geht aufwärts, und jeder wusste damals, dass wir auch gute Politiker brauchen, damit es weiter Richtung Wohlstand und Frieden geht“, so Meinolf. Politik und Politiker habe man damals mit Hoffnung verbunden; heute dagegen, bedauert er, werde Politikern eher an allem die Schuld gegeben. Die Masse an Menschen auf dem Rathausmarkt spiegelte aus seiner Sicht auch den Zusammenhalt der Gesellschaft wider. „Es gab nicht diesen Egoismus von heute.“

"Unsere Stellung ist nicht so klar und stark, wie sie sein sollte"

Es gibt, so der SPD-Politiker Meinolf, leider auch nicht mehr diese eindeutige Haltung, diese klare Positionierung bei Politikern. „Ich bin überzeugt, dass auch heute Wahlkämpfe mehr Menschen locken würden, wenn die wirklichen Probleme offen und ehrlich angesprochen und angegangen würden.

3. September 1965. Brandt geht auf die Stellung Deutschlands in der Welt ein: „Unsere Stellung ist nicht so klar und stark, wie sie sein sollte.“ Der SPD-Vorsitzende wirbt vor allem für mehr Bildung: „Forschung ist das Brot des Volkes von morgen“, betont er und verspricht Milliarden für große Gemeinschaftsaufgaben wie eben Bildung. „Auch die reichste Nation kann es sich nicht leisten, auf Bildung zu verzichten.“

Große Rhetoriker fehlen

Frank Wagner (CDU), einer der jüngeren Kommunalpolitiker in Mülheim, glaubt wie Meinolf, dass sich Menschen durchaus wieder in größerer Zahl Politikern zuwenden würden, wenn „das Image der Politiker sich bessert“ und „wenn es wieder Politiker mit Ecken und Kanten gibt, die diese auch in ihrer Partei ausleben dürfen. Viel zu sehr, sagt Wagner, gebe es heute einen Einheitsbrei. „Wer sich kritisch und skeptisch äußert, kommt oft nicht gut an.“ Auch die großen Rhetoriker fehlten den Parteien, und die vielen Talkshows mit Politikern schreckten viele inzwischen eher ab.

Gut eine Stunde spricht Willy Brandt und endet mit einem nach wie vor aktuellen Politikerwunsch: Wählen gehen! Gut zwei Wochen später kommt die SPD auf 39,3 Prozent, die CDU erreicht mit Ludwig Erhard 47,6 Prozent.