Mülheim. Zeitzeugen erlebten die Einmarsch der Amerikaner vor 75 Jahren in Mülheim. Schnelle Mundpropaganda und erste Begegnungen mit schwarzen GIs.

Manchmal kommen die Neuigkeiten schneller unter als über der Erde voran. Als die Amerikaner am 11. April 1945 in Richtung Mülheim marschierten, wussten das die Bergleute auf der Zeche Rosenblumendelle in Heißen bereits. Da waren die Panzerfahrzeuge noch gar nicht auf den Straßen der Stadt zu sehen. Der Zechenfunk der Bergleute, vergleichbar mit dem Flurfunk bei Firmen, funktionierte stets bestens. Davon berichtet Hans Meinolf.

„Damals hatten wir zwar gehört, dass die Amerikaner kommen würden. Aber wann genau, das war völlig unklar. An diesem Mittwochmorgen kam die Nachricht dann plötzlich aus dem Schacht: ,Sie marschieren von Essen-Schönebeck aus über die Aktienstraße nach Mülheim. Eine zweite Kolonne kommt über die Reichsstraße 1, heute A 40 und B 1’. Wir waren erleichtert“, erinnert sich Meinolf an die aufgeregten Stimmen auf der Zeche.

Zechen waren unter der Stadtgrenze miteinander verbunden

„Möglich war dieser schnelle Nachrichtentransport, weil die Zechen des Mülheimer Bergwerksvereins in Mülheim und Essen längst alle über Durchschläge und Stollen unter der Stadtgrenze hindurch miteinander verbunden waren. Mülheimer Kumpel haben unter Essener Gebiet Kohle abgebaut und umgekehrt. So verbreitete sich die Nachricht schnell in den Flözen und kam in Heißen schneller ans Tageslicht, als die Amerikaner marschierten“, sagt Meinolf.

Über die Aktienstraße marschierten die amerikanischen Soldaten an der Essener Zeche Kronprinz vorbei nach Mülheim.
Über die Aktienstraße marschierten die amerikanischen Soldaten an der Essener Zeche Kronprinz vorbei nach Mülheim. © Stadtarchiv Essen | Stadtarchiv Essen

Er selbst war damals erst 15, wurde im Oktober 1944 vom Reichsarbeitsdienst eingezogen und musste auf Rosenblumendelle bis 8. Mai 1945 aus Weichholzstempeln Klötze sägen, damit diese in den Holzmotoren der Lastwagen verfeuert werden konnten. „Wir haben damals oben in der Theorie viel über die Besonderheiten der Bergbaus gelernt. Nur einmal war ich unten und habe gesehen, wie hart dort die Arbeit war. Aber erst ab 16 Jahren durfte man vor die Kohle. Das blieb mir erspart.“

„Wir haben uns sofort ins hohe Gras geworfen“

„Wir waren an der Kreuzung unterwegs, wo Großenbaumer, Saarner und Prinzess-Luise-Straße zusammentreffen. Dort sahen wir plötzlich Panzer und Soldaten auf uns zukommen. Wir kannten diese Uniformen nicht. Wir Kinder hatten Angst, rannten los zu den Wiesen und haben uns schnell in das hohe Gras geworfen“, erinner sich Ilse Tilgner.

Sie war mit ihren Freundinnen unterwegs. „Wir spielten oft auf den Wiesen von Bauer Böllert. Das Verstecken gelang uns aber kaum. Die GIs hatten uns längst gesehen. Gegenüber der Saarnbergschule, wo heute das Hochhaus steht, hatten die Amerikaner ihr kleines Lager. Die Fläche gehörte den Achterfelds“, erinnert sich die Leserin.

Großvater hatte Gewehre und Nazibücher auf Acker vergraben

Dort standen Panzer und andere Fahrzeuge. Die Soldaten campierten dort. Tilgner: „Sie machten sich dort Spiegeleier und gossen das Öl danach einfach ins Gras. Wir haben uns darüber sehr gewundert. Meine Mutter fuhrt immer nach Duisburg zum Schwarzmarkt, um dort für viel Geld einen Liter Öl in eine Glasflasche abfüllen zu lassen.“

Wenige Tage später kamen die GIs in das Haus der Familie Tilgner an der Lübecker Straße. „Sie durchwühlten sogar den Kleiderschrank meiner Mutter. Sie suchten Waffen und das Buch ,Mein Kampf’. Da war meine Mutter außer sich. Mein Großvater hatte schon Monate zuvor alle Gewehre und Nazibücher auf einem Acker neben der Saarner Straße vergraben. Sonst hätte es mächtig Ärger gegeben“, blickt Ilse Tilgner zurück.

Als Manfred Gohr über die Schlossbrücke rannte, schoss vor ihm eine Stichflamme in die Höhe. Der Volkssturm wollte die Brücke in letzter Minute sprengen, was der Kommandant verhinderte.
Als Manfred Gohr über die Schlossbrücke rannte, schoss vor ihm eine Stichflamme in die Höhe. Der Volkssturm wollte die Brücke in letzter Minute sprengen, was der Kommandant verhinderte. © WAZ FotoPool | Johann Dörr, Repro: Maxi Oberfeld

Stichflamme schoss an der Schlossbrücke hoch

„Die Amerikaner stehen schon am Finanzamt. Ihr müsst nach Hause.“ Manfred Gohr war am 11. April 1945 mit der Familie bei seiner Oma an der Dimbeck. „Wir rafften sofort unsere Sachen und rannten an der Freilichtbühne vorbei durch die Altstadt Richtung Schlossbrücke.“

Als Manfred Gohr fast das Broicher Ufer erreicht hatte, „schoss eine große Stichflamme vor ihm in die Höhe. Alle, die mit uns dort unterwegs waren, waren entsetzt. Meine Mutter hat um mein Leben geschrien. Aber zum Glück ist mir nicht passiert.“

„Der Volkssturm wollte die Brücke noch in letzter Minute sprengen, was aber nicht gelang. Wir waren erleichtert, als wir zu Hause am Veilchenweg ankamen“, schildert Gohr seine Erlebnisse. Mit den Amerikanern habe sich das Leben in der Stadt beruhigt.

Strammer Nazi hat das ganze Haus eingeschüchtert

Hubert Büllmann hatte aus dem Fenster gesehen, dass sich auf der Bruchstraße Männer bewegten, „die andere Kleidung trugen, als die der Nachbarn oder deutsche Soldaten. Ich habe meine Eltern gerufen. Die schauten und sagten: ,Jetzt ist der Krieg zu Ende.’ Danach begann für uns Kinder eine bessere Zeit.“

Die Familie wohnte damals im Haus Bruchstraße 95. Neben weiteren Familien lebte dort auch ein Mann, der strammer Nationalsozialist war. Büllmanns Vater habe dieser einmal gesagt: „Ich werde Sie dahinbringen, wo Sie hingehören.“ „Er hat das ganze Haus eingeschüchtert.“

Soldaten haben die Kinder fast liebevoll behandelt

In der katholischen Schule an der Bruchstraße war der Volkssturm einquartiert. „Dort machten die Amerikaner Gefangene. Als sie mit ihnen zurückkamen, war auch unser Nachbar im Tross der Abgeführten“, erinnert sich Büllmann. In der Umgebung sei danach alles ruhig geblieben.

„Wir Kinder hatten in diesen Wochen unsere erste Begegnung mit Schwarzen. Die Soldaten haben uns gut, fast liebevoll behandelt. Ich habe beste Erinnerungen. Ich kann überhaupt nicht verstehen, wieso Menschen heute noch Rassisten sein können“, fügt der Leser hinzu.