Herne. Hendrik Bollmann ist neuer SPD-Chef in Herne. Im Interview ging es neben Politik, Karriere und Krise auch um Facebook, Fußball und vieles mehr.
Ratsherr, Röhlinghauser, Lehrer, Kleingärtner, Fußballfan und seit wenigen Tagen auch SPD-Vorsitzender: Die WAZ hat mit Hendrik Bollmann (39) über seine Partei, die aktuelle Krise, den Oberbürgermeister, Facebook, Gurken und vieles mehr gesprochen.
Was ist für Sie wahrscheinlicher: Dass Ihr Lieblingsclub VfL Bochum in dieser Saison den Abstieg aus der Bundesliga verhindert oder dass die SPD in der Ampel eine Übergewinn- und Vermögenssteuer durchsetzen kann?
Hendrik Bollmann: Ich glaube, dass beides gleich wahrscheinlich ist. Der VfL wird sich auf jeden Fall auf Platz 15 retten. Und ich gehe davon aus, dass auch Finanzminister Christian Lindner und die FDP irgendwann einsehen müssen, dass die aktuellen Herausforderungen nicht einfach im Rahmen von Schuldenbremsen und einfachen Finanzierungswegen bewältigt werden können. Wir brauchen den Schulterschluss aller. Es geht um die Demokratie.
Ist die Koalition in Berlin in Gefahr, wenn die FDP nicht auf diesen Kurs schwenkt?
Das kann ich von Herne aus nicht beurteilen. Ich kann nur einen dringenden Appell an die Koalition und insbesondere an die FDP richten. Es wird in den nächsten Jahren – auch in Herne – um die Wurst gehen; da kann man nicht mehr taktieren. Viele Bevölkerungsschichten werden finanzielle Probleme bekommen. In dieser Situation müssen wir auf jene zählen, bei denen diese Probleme etwas kleiner sind. Es wäre eine Horrorvorstellung, wenn in solch einer Situation auch noch die Regierungskoalition zerbrechen würde.
Ihr Ex-Genosse, der Gewerkschafter Norbert Arndt, hat jüngst beim Herner Sozialforum skizziert, welche Folgen die Krise für Ihre Partei haben wird. Zitat: ,Das ganze Ding wird der SPD auf die Füße fallen und ihr den Rest geben.‘ Was entgegnen Sie ihm?
Die Menschen erwarten von uns, dass wir in dieser Phase Verantwortung übernehmen. Taktische Überlegungen dürfen hier nicht im Vordergrund stehen. Natürlich denken wir als SPD darüber nach, wie es für uns als Partei weitergeht. Aber wir alle haben Verwandte, Freunde und Nachbarn, die Angst haben und vor der Frage stehen: Kann ich meine Existenz weiterführen, die ich mir in vielen Jahren aufgebaut habe? Und angesichts dieses Szenarios geht es nicht darum, welche Folgen das für die SPD haben könnte. Sozialdemokraten sind bekannt dafür, dass sie sich bei Problemen in die Pflicht nehmen lassen. Und deshalb haben Sozialdemokraten in diesem Land auch immer Verantwortung übernommen, auch wenn das nicht immer einfach war und ist.
Wie können Sie bei der aktuellen Großwetterlage als SPD vor Ort gegensteuern?
Wir haben uns am Montagabend als SPD in einem ersten Aufschlag zunächst mal in einem größeren Kreis zu einem Austausch getroffen. Der DGB und Wirtschaftsvertreter waren dabei, Sozialverbände und die Tafel, wir hatten Schuldnerberatung und Verbraucherzentrale am Tisch, Wohnungsunternehmen, Stadtwerke und die Bädergesellschaft. Wichtig war dabei auch, dass unsere Abgeordneten Michelle Müntefering und Alexander Vogt Punkte mit nach Berlin und Düsseldorf nehmen konnten. Ich gehe davon aus, dass die SPD zu weiteren Runden einladen wird. Natürlich braucht man grundsätzlich die Unterstützung aus Bund und Land, damit wir Lösungsvorschläge vor Ort besprechen können. Unabhängig davon müssen wir den Menschen aber signalisieren: Wir sind da und setzen uns für euch ein, auch wenn es häufig nur die kleinen Schräubchen sind, an denen wir drehen können. Wenn das nicht geschieht, werden andere Kräfte die Debattenhoheit gewinnen, die vor Ort gar nicht präsent sind. Die Treffen haben aber auch noch einen anderen Zweck.
Und zwar?
Wir können Netzwerke ausbauen. Und wir können prüfen, was die Stadt – angeregt von der Ratspolitik – tun kann, um vor Ort direkte Hilfen zu organisieren.
Jenseits der politischen Großwetterlage läuft es für Sie persönlich zurzeit gut: Sie sind vor wenigen Tagen mit 87 Prozent zum neuen SPD-Vorsitzenden in Herne gewählt worden. Zufrieden mit dem Ergebnis?
Ja, damit bin ich sehr zufrieden. Ich hatte schon im Vorfeld festgestellt, dass mir ein gewisses Vertrauen, aber auch eine gewisse Erwartungshaltung entgegengebracht wird. Auf mich wartet viel Arbeit, aber ich freue mich darauf.
Sie haben sich in Ihrer Parteitagsrede auf die „Working Class“, die neue Arbeiterklasse fokussiert, also auf Arbeiter, Angestellte und Selbstständige. Und Sie haben auch Probleme von Rentnern und Studierenden angesprochen. Hartz-IV-Empfänger oder sehr arme Menschen fanden dagegen keine Erwähnung. Spielt die Situation von Arbeitslosen in der SPD keine Rolle mehr?
Doch, natürlich tut sie das. Wenn wir darüber reden, wie Hartz IV reformiert und ein Bürgergeld eingeführt wird, geht es auch darum, wie man sich um Menschen kümmert, die irgendwann ihre Arbeit verlieren und wie man sie schnell wieder in Arbeit bringen kann. Die Frage, wie Arbeitslosigkeit in den Sicherungssystemen aufgefangen wird, betrifft auch die „Working Class“. Es geht letztlich darum, ob wir einen vernünftigen Umgang miteinander haben. Und es geht um den Faktor Angst. Wenn Menschen den Eindruck haben, dass das System in Zeiten der Arbeitslosigkeit nicht gut mit ihnen umgeht, wird das keine guten Auswirkungen auf das gesellschaftliche Klima haben.
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Ihr 2017 verstorbener Vater Gerd Bollmann hat die Herner SPD von 2000 bis 2012 geführt. In ihrer Rede haben Sie das fast komplett ausgeklammert. Weil es nicht in die Rede passte oder weil es Ihnen emotional zu nahe gegangen wäre?
Ich habe einen anderen Schwerpunkt gesetzt. Mir war wichtig, das Thema ins Zentrum zu stellen, welches die Menschen zurzeit am meisten bewegt. Das ist auch die Aufgabe eines Parteivorsitzenden. Natürlich habe ich in den Tagen vor der Wahl häufig an meinen Vater gedacht. Aber es war wichtig, mit dieser Rede ein Statement zu setzen und zu signalisieren, dass wir für die Menschen da draußen arbeiten werden.
Sie waren im Juso-Alter, als Ihr Vater den Vorsitz übernahm. Gibt es etwas, das Sie von ihm gelernt haben und das Sie besonders geprägt hat?
Mich hat sein Anspruch geprägt, dass man sich direkt bei den Menschen aufhalten und wissen muss, was sie bewegt. Deshalb bin ich auch so gerne in meinem Kleingarten oder gehe gerne zum Fußball.
Ihr Vater ist zwei Jahre nach seiner Wahl zum SPD-Vorsitzenden Bundestagsabgeordneter geworden. Andere SPD-Spitzen sind in den Landtag eingezogen oder zum Oberbürgermeister gewählt worden. Wohin führt Ihr Weg?
Erstmal bin ich für die nächsten Monate zum Parteivorsitzenden gewählt worden, bis wir dann 2023 einen neuen Vorstand wählen. In bin aktuell sehr zufrieden mit dem, was ich bin. Mein Mittelpunkt ist die Kommunalpolitik. Ich will, dass das auch so bleibt.
Das ist sehr diplomatisch formuliert, aber ich nehme Ihnen nicht ab, dass Sie nicht über die Gegenwart hinausdenken. Höhere Ämter und mehr Macht bedeutet doch auch, dass man seine politischen Ziele besser durchsetzen und gestalten kann – siehe Frank Dudda. Können Sie sich vorstellen, mal OB zu werden?
Das ist nicht die Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Wir haben mit Frank Dudda einen ganz hervorragenden Oberbürgermeister, der in vielen Bereichen neue Standards gesetzt hat und von dem ich mir erhoffe, dass er möglichst lange weitermacht. Ich bin mir der großen Aufgabe und der Bedeutungsschwere bewusst, die mit meiner Wahl zum SPD-Vorsitzenden verbunden ist. Ich fange lieber klein an und mache erst einmal meine Hausaufgaben.
Wird OB Frank Dudda 2025 bei der Kommunalwahl erneut kandidieren?
Das weiß ich nicht, aber ich wünsche mir das.
Der SPD-Ratsfraktionsvorsitzende Udo Sobieski hat bereits angekündigt, in drei Jahren nicht mehr anzutreten. Wollen Sie sein Nachfolger werden?
Auch da gilt: Darüber mache ich mir keine Gedanken. Meine Aufgabe ist es, mich als Parteivorsitzender unter anderem mit Udo Sobieski als Fraktionsvorsitzender an meiner Seite an der Bewältigung der massiven Krise zu beteiligen. Und wir müssen die Partei breit aufzustellen sowie den Dialog mit der Basis und den Ortsvereinen führen - auch schon mit Blick auf die Kommunalwahl 2025.
Sie und Udo Sobieski gelten nicht gerade als ziemlich beste Freunde. Insbesondere nach der Kommunalwahl hat es Spannungen zwischen Ihnen gegeben. Wie ist das aktuelle Verhältnis?
Wir tauschen uns regelmäßig aus und haben eine sehr gute Zusammenarbeit, was in dieser Krise auch notwendig ist. Das schätze ich sehr.
Ist die SPD-Fraktion gespalten?
Nein.
Können Sie sich vorstellen, dass in der Herner SPD Partei- und Fraktionsvorsitz in einer Hand sind?
Höchstens für eine Übergangszeit. Ein solches Modell kann auf keinen Fall eine Dauerlösung sein.
OB Dudda hat auf dem Parteitag scherzhaft gesagt, dass Ihre Dauerpräsenz in den sozialen Netzwerken ihm Angst mache. Wie wichtig ist dieses Medium für Sie?
Die sozialen Netzwerke übernehmen eine unglaublich wichtige Funktion. Sie machen Politiker und Politik auf eine gewisse Weise anfassbar. Natürlich gibt es dabei Grenzen. Es ist aber auch ein wichtiger Informationskanal, auf dem man Politik erklären kann. Ich habe festgestellt: Wenn man Informationen auf dieser Ebene gut streut, kann man viele Leute erreichen und über Politik aufklären. Das ist auch Demokratiearbeit. Man muss natürlich robust sein. Es gibt Gegenwind, das gehört aber dazu. Solange es im Rahmen bleibt und man sich an Regeln hält, ist das völlig in Ordnung.
Sie sind nicht nur auf Facebook präsent, sondern auch bei vielen Veranstaltungen und Aktionen insbesondere in Röhlinghausen. Wird das so bleiben nach Ihrer Wahl zum Vorsitzenden?
Ich werde mich etwas neu sortieren und damit auch in anderen Stadtteilen präsent sein. Ich bin nun auch für ganz Herne zuständig. Aber Röhlinghausen bleibt mein Mittelpunkt. Dort ist schließlich mein Ratswahlkreis. Den Vorsitz des SPD-Ortsvereins werde ich aber abgeben.
Müssen Sie sich bisweilen auch bremsen, um nicht zu überdrehen und andere mit einer Fülle an Ideen zu überfordern?
Ja, das ist so. Ich habe nach wie vor viele Ideen, habe inzwischen aber gelernt, zunächst mal Meinungen einzuholen, bevor ich sie in die Partei einbringe. Das mache ich beispielsweise auch im Kleingartenverein. Es ist sehr schön, wenn man Leute außerhalb der Politik hat, die einem mal sagen: Das ist jetzt aber Mist.
>>> Schlussrunde: Richtig oder falsch?
Richtig oder falsch: Ich unterstütze als Lehrer die Forderung, dass der Unterricht für ältere Schülerinnen und Schüler erst ab 9 Uhr beginnen sollte.
Falsch.
Warum?
Weil die Arbeitswelt, vor der diese Schülerinnen und Schüler stehen, andere Anfangszeiten vorsieht. Ich kann ihnen als Schule nicht vorgaukeln, dass es entspannt wird. Wenn die Arbeitswelt sich ändert, könnte man darüber reden.
Der Grund für Ihre Ablehnung ist nicht, dass der Lehrer Bollmann bei einem späteren Unterrichtsbeginn später Feierabend und dann weniger Zeit für die Politik hätte?
(lacht) Nein, auf keinen Fall.
Weiter in der Schlussrunde: Fleisch ist mein Gemüse.
Nein.
Sie sind ja als Kleingärtner verpflichtet, Obst und Gemüse anzubauen. Was wächst bei Ihnen im Garten?
Eine ganze Menge: Ich habe Tomaten, Zucchini, Aubergine, Wirsing, Rotkohl, Kartoffeln, Erdbeeren, Himbeeren, Brombeeren, Johannisbeeren …
Ihr Lieblingsgemüse?
Möhren. Und Gurken. Es gibt nur wenige Gemüsesorten, bei denen man den Unterschied zu gekauften Produkten so krass bemerkt wie bei Gurken.
Von den Gurken zurück zur Politik: Robert Habeck hat das Zeug zum Bundeskanzler.
Falsch.
Sind Sie denn bei Olaf Scholz seit der Regierungsbildung zu jeder Sekunde der Meinung gewesen, dass er Kanzler kann.
Ja. Er hat uns in einer außenpolitischen Lage, die im Frühjahr äußerst prekär war und bei der wir alle in eine Blackbox geschaut haben, die richtigen Akzente gesetzt und hat sehr überlegt gehandelt. Das ist ein großer Verdienst, den auch Bürgerinnen und Bürger zu schätzen wissen, wie ich immer wieder höre. Außer Frage steht für mich aber auch, dass er früher und anders kommunizieren müsste, um seine Qualitäten besser auszuspielen.
>>> ZUR PERSON: Rat und Ruhrparlament, Sport und Religion
Hendrik Bollmann ist 1997 im Alter von 15 Jahren in die SPD eingetreten. Der Röhlinghauser gehört seit 2014 dem Rat der Stadt und seit 2020 dem Ruhrparlament beim RVR an.
Der 39-Jährige unterrichtet Sport und Religion am Emschertal Berufskolleg in Herne. Bis 2020 war er an einer Hauptschule in Dortmund.
Bollmann ist ledig. Er ist Mitglied im Fußballverein SpVgg Röhlinghausen, der Awo, der Bildungsgewerkschaft GEW und im Kleingartenverein Röhlinghausen.