Gladbeck. Sie litt unter schweren Kindheit und Magersucht. Über Erfolg im Job wollte sie sich neu definieren, doch die 58-Jährige fiel in ein tiefes Loch.
Melanie S. (Name von der Redaktion geändert) hat keine schöne Kindheit gehabt. Weil die Mutter Alkoholikerin war, musste die heute 58-Jährige schon ganz früh zu Hause viele Aufgaben übernehmen. Aufgaben, die auch einen Erwachsenen an seine Grenzen gebracht hätten. „Ich habe schon im Alter von sechs Jahren den Haushalt übernommen, mich um meinen Bruder gekümmert“, erinnert sie sich. Besonders wichtig sei es gewesen, die Mutter dazu zu bringen, immer gegen Mittag auf der Couch ihren Rausch auszuschlafen. „Damit es keinen Ärger gab, wenn mein Vater abends von der Arbeit nach Hause kam.“
Zwei heftige Burnouts liegen hinter der 58-jährigen Gladbeckerin
Dass das Erlebte schwerwiegende, ja schon lebensbedrohliche Auswirkungen auch auf das Leben der erwachsenen Melanie hat, das ist der 58-Jährigen erst vor Kurzem so richtig klar geworden. Nach zwei heftigen Burnouts, etlichen Therapie-Sitzungen, Rehamaßnahmen, Jahren der Arbeitsunfähigkeit und einer erst unlängst begonnenen Traumabewältigung. „Jetzt weiß ich, dass ich mich immer über meinen Job definiert habe. Über meine Leistung wollte ich Anerkennung erhalten. Dafür habe ich alles gegeben, ohne auf mich selbst zu achten.“ Etliche Jahre des Leidens, begleitet immer auch von heftigen körperlichen Problemen, liegen hinter der Gladbeckerin.
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Seit etwa sechs Jahren ist die Gladbecker Frauenberatungsstelle eine feste Anlaufstelle für die 58-Jährige. Therapeuten, berichtet sie, haben immer wieder gewechselt, und nicht immer habe die Chemie gestimmt. „Und war eine Therapiesitzung abgelaufen, hat es oft lange gedauert, bis es wieder jemanden gab, der einem ‚auf Rezept‘ zugehört hat.“ Die Frauenberatungsstelle hingegen biete ihr bis heute eine konstante Beratung und Hilfe. Hier habe sie den Raum gefunden, der ihr Schutz und Halt gebe. Nach wie vor.
Es begann eine Zeit des Mobbings und der Intrigen
Ein Blick zurück auf bessere Zeiten: Zehn Jahre lang, erzählt Melanie S., habe sie einen tollen Job gehabt, als Industriekauffrau in einem Familienunternehmen – „mit einem tollen Chef“. Doch dann habe sich das Blatt abrupt gewendet: Die Firma sei an ein großes Unternehmen verkauft worden, sie habe eine neue Chefin bekommen, die sich habe beweisen wollen. Begonnen habe eine Zeit des Mobbings und der Intrigen. Immer mehr von den alten Kollegen seien gegangen. Jeder habe sich nur noch um sich selber gekümmert. Sie selbst habe sehr an ihrem Job gehangen, „das war mein Baby“. Sie habe also noch eine Zeitlang durchgehalten, trotz zunehmender auch körperlicher Beschwerden. Doch dann der erste Zusammenbruch. Anderthalb Jahre, sagt Melanie S., sei sie krankgeschrieben gewesen. Eine Zeit, in der sie verschiedene Therapeuten aufgesucht, eine Reha gemacht und den ersten Kontakt zur Frauenberatungsstelle aufgebaut habe.
In ihre alte Firma ist die 58-Jährige anschließend nicht mehr zurückgekehrt, hat vielmehr eine neue Anstellung in einem Gladbecker Betrieb gefunden. „Da war ich anfangs Mädchen für alles, das hat mir sehr gut gefallen.“ Und wieder habe sie sich mit Feuereifer an die Arbeit gemacht. Mit der Junior-Chefin habe sie sich bestens verstanden. Weniger gut sei die Zusammenarbeit mit deren Vater vonstattengegangen, der auch noch in der Firma aktiv gewesen sei. „Er hat mit tatsächlich einmal gesagt, ich sei ihm zu freundlich, damit käme er nicht klar.“ Kurze Zeit später habe der Senior ihr die Kündigung auf den Schreibtisch gelegt.
Arbeiten, bis der Körper um Hilfe schreit
Den beruflichen Neustart versuchte Melanie S. daraufhin in einem noch ganz jungen Gelsenkirchener Unternehmen, das sich auf haushaltsnahe Dienstleistungen im Seniorenbereich spezialisiert hatte. Und wieder sagt sie diesen Satz: „Mit der jungen Chefin habe ich mich gleich super verstanden, wir waren fast wie Schwestern!“
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Und wieder sei sie schnell in ihr altes Schema verfallen: Arbeiten bis zur körperlichen Erschöpfung. Die Firma, erzählt Melanie S., sei rasch gewachsen, habe immer mehr Aufträge angenommen. Den Bürokram habe sie trotz zunehmender Arbeit weiter allein bewerkstelligt. Ihre Bitte um Unterstützung im Büro habe ihre Chefin mit hohlen Phrasen abgetan. Und wieder habe ihr Körper Alarm geschrien – habe mit Sodbrennen, einem Taubheitsgefühl und brennenden Beinen auf die Situation reagiert. S. reduzierte ihre Arbeitszeit. „Das hat dann aber nur dazu geführt, dass ich alles weiter ohne Hilfe in der kürzeren Zeit erledigen musste.“
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Es folgte der zweite Burnout, die erneute Kündigung. Diesmal sei alles noch schlimmer gewesen, denn nachdem sie ihre ehemalige Chefin darauf hingewiesen habe, dass sie noch 200 nicht bezahlte Überstunden geltend machen könne, sei es sogar zu Bedrohungen gekommen. Von dem fast schwesterlichen Verhältnis sei nichts mehr übriggeblieben. „Und dann war es erneut da, das Gefühl, es wieder nicht gepackt zu haben.“
Als Jugendliche war Melanie S. lange Zeit magersüchtig
Im Sommer 2023 stand für Melanie S. eine weitere Reha an. Ihr Glück, wie sie heute sagt. „Der Professor hat mir klipp und klar erklärt, dass ich es nie geschafft habe, einen Selbstschutz aufzubauen.“ Die Tatsache, Wertschätzung allein über die Leistung im Job erfahren zu können, habe er sehr schnell auf die Erlebnisse in ihrer Kindheit zurückgeführt. Genauso wie ihre Magersucht als Jugendliche. Äußerst schmerzhaft sei die Erkenntnis gewesen, aber eben auch der Beginn der professionell begleiteten Traumabewältigung. Der Professor habe tief in ihre Seele geblickt, ihr so viele Zusammenhänge klargemacht.
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An eine Rückkehr in den Beruf denkt Melanie S. schon lange nicht mehr. Vor allem in jüngster Zeit hat sie sehr mit ihrer Gesundheit zu kämpfen und deshalb noch etliche Arzttermine vor sich.
Darüber spricht man ... doch!
Depression, Insolvenz, Einsamkeit: Es gibt viele Themen, über die (öffentlich) nicht gerne gesprochen wird. Unter dem Titel „Darüber spricht man … doch!“ startet die WAZ Gladbeck eine neue Serie, um eben über diese Themen zu berichten.
In der Serie stellte die Redaktion etwa eine Alkoholabhängige und eine von Burnout betroffene Frau vor. Weitere Themen sind unter anderem: Drogenabhängigkeit und Schwangerschaftsabbruch.
Haben Sie Anregungen? Möchten Sie mit uns über ein vermeintliches Tabuthema sprechen, von dem Sie betroffen sind? Dann melden Sie sich per Mail an redaktion.gladbeck@waz.de oder unter 02043/299838.
Ihre körperlichen Blockaden machen ihr schwer zu schaffen. Eine Zeitlang versagten ihre Beine komplett. „Gehen und auch Radfahren, das funktioniert erst seit Kurzem wieder so halbwegs.“ Zukunftspläne schmiedet die 58-Jährige aber dennoch. Sie möchte sich ehrenamtlich engagieren, Menschen helfen. Und das in der Frauenberatungsstelle, dem Ort, an dem sie selbst nach wie vor soviel wichtige Unterstützung erfährt. Und sie sagt: „Ich möchte mein Leben, mein Lachen zurück!“
>> Seit 40 Jahren gibt es die Frauenberatungsstelle in Gladbeck. Das Team berät in den Schwerpunktthemen häusliche Gewalt, sexualisisierte Gewalt, Essstörungen, psychische Gesundheit, Trennung, Scheidung, Beziehungsprobleme etc.. Doch die Zukunft der Beratungsstelle an der Wilhelmstraße ist ungewiss, denn die Fördermittel reichen nicht mehr aus zur Deckung steigender Kosten.. Die Geldnot belastet schon jetzt die Arbeit des Teams. „Wir müssen Beratungsstunden streichen, weil wir uns stattdessen mit den Finanzen beschäftigen müssen“, sagen die beiden Beraterinnen Sarah Sandi und Carla Wittenberg.
Um den Frauenraum in Gladbeck erhalten zu können, braucht das Team der Frauenberatungsstelle Unterstützung. So kann man beispielsweise Quadratmeter-Pate des Frauenraums werden, Material oder Geld spenden oder Vereinsmitglied werden. Weitere Informationen unter frauenberatungsstelle-gladbeck.de/spenden.