Gladbeck. Gertrud teilt ihre bewegende Geschichte: 45 Jahre trocken nach einer Zeit voller Alkohol und häuslicher Gewalt. Hier erzählt sie von ihrem Kampf.
84 Jahre alt ist diese Frau, gepflegt, geistig und körperlich total fit. Und sie sagt: „Wenn ich den Absprung nicht geschafft hätte, säße ich schon lange nicht mehr hier. Ich hätte mich tot gesoffen.“ Gladbeckerin Gertrud (der richtige Name ist der Redaktion bekannt) ist Alkoholikerin – seit 45 Jahren trocken.
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Die Phase ihres Lebens, als sie „an der Flasche hing“, klingt wie ein Albtraum. Dabei fing alles harmlos an. Nach dem Besuch der Frauenfachschule arbeitete Gertrud als Hauswirtschafterin. Alkohol war da noch kein Thema. 1961 heiratete sie. Tanzen war eine Leidenschaft des jungen Paares. „Jedes Wochenende waren wir auf dem Tanzboden, und da wurde auch getrunken“, erzählt sie. Ihr Mann beschränkte sich auf Bier, sie bestellte Schnaps. „Alle Farben“ habe sie getrunken, vom Likör bis zu hochprozentigem Escorial grün. Dass sie auf dem Weg in die Abhängigkeit war, bemerkte sie da noch nicht.
Gladbecker Alkoholikerin: Betrunken in der Ecke, wenn die Tochter aus der Schule kam
1966 wurde die erste Tochter geboren, drei Jahre später die zweite. Für gemeinsame Gaststättenbesuche fehlte ihr jetzt die Zeit. „Mein Mann hat als Bergmann gearbeitet, ging am Wochenende alleine aus. Ich wollte immer alles perfekt machen, war aber mit Haushalt, Kindern und einer Putzstelle völlig überfordert. Wenn er betrunken nach Hause kam, habe ich gemeckert – und er hat mich geschlagen.“ Zu der Zeit habe sie „abends mal ein Bier getrunken. Das tat gut.“
Es blieb nicht beim abendlichen Bier: „Meine Probleme wurden immer größer, die Getränke immer stärker, die Abstände immer kürzer. Ohne Alkohol bin ich nicht mehr klargekommen.“ Oft sei sie schon betrunken gewesen, wenn die große Tochter von der Schule kam. „Ich habe morgens angefangen und lag abends in der Ecke.“
Medikamente, Klinik – und der Rückfall
Klinikaufenthalte und Entgiftungen blieben erfolglos. Ein Arzt verschrieb ihr Antabus-Tabletten, ein mittlerweile in Deutschland nicht mehr zugelassenes Medikament. Bei gleichzeitigem Alkoholkonsum leiden die Patienten unter heftigen Nebenwirkungen wie Übelkeit, Atemnot, Herzrasen und Kopfschmerzen.
„Getrunken habe ich zu der Zeit nicht, aber einmal irgendetwas mit Alkohol gegessen – und bin völlig durchgedreht“, erzählt Gertrud. „Mein Mann hat einen Arzt gerufen, der hat mir eine Spritze gegeben, und es wurde noch schlimmer.“ An Händen und Füßen fixiert, wurde sie in die psychiatrische Klinik nach Dortmund-Aplerbeck gebracht.
Die Rettung für Gertrud: die Anonymen Alkoholiker
Drei Monate musste sie dort bleiben. Aber trotz aller guten Vorsätze: Nach der Rückkehr kam der Rückfall. „Als mein Mann eine halb volle Schnapsflasche fand, hat er sie auf meinem Kopf zerschlagen, vor den Augen der Kinder.“ Das sei bis heute die schlimmste Erinnerung an die schreckliche Zeit.
Hilfe fand Gertrud bei den Anonymen Alkoholikern. Eine Nachbarin hatte ihr dazu geraten. „Der Frau bin ich noch heute dankbar“, sagt die 84-Jährige. 1978 ging sie zum ersten Mal zu einem Treffen ins Haus der evangelischen Kirche. „Da saßen 30 Leute. Alle sahen so gut und gesund aus, und alle hatten dasselbe Problem wie ich. Ich habe meine Geschichte erzählt, sie haben verstanden, wovon ich spreche, weil sie Ähnliches erlebt hatten. Schon bei diesem ersten Treffen wusste ich, dass ich hier richtig bin.“
Gertruds Mann wurde durch Alkohol zum Pflegefall
Gertrud hat seither keinen Alkohol mehr angerührt, obwohl die Probleme erst einmal nicht weniger wurden: Ihr Mann stürzte ab. „Mit mir ging es bergauf, mit ihm bergab. Er trank immer mehr, wollte einmal total betrunken von einer Feier mit dem Auto nach Hause fahren. Die Kinder haben die Polizei gerufen. 3,25 Promille hatte er im Blut, der Führerschein war weg.“
Sie erlitt zwei Nervenzusammenbrüche in dieser Zeit, blieb aber abstinent. „Ich habe in der Gruppe gelernt, meine Probleme anders zu lösen. Ich habe etwas für mich getan.“ Sie machte den Führerschein, trieb und treibt bis heute viel Sport, fuhr allein in Urlaub, traf sich mit Freunden. Als trockene Alkoholikerin ging sie regelmäßig auch zu Al Anon, der Gruppe für Angehörige Alkoholkranker. „Dort habe ich gelernt, bei meinem Mann zu bleiben, denn auch er hat mich in meiner schlimmen Zeit ja nicht verlassen.“ Ihr Mann sei wegen seines Alkoholkonsums zum Pflegefall geworden. 2002 starb er an Krebs.
Nach 45 Jahren Abstinenz: „Es gibt keinen Grund zu saufen.“
Getrud hat ihr Leben in den Griff bekommen. Zu ihren Töchtern, „die so viel Schreckliches mit ihren Eltern erleben mussten“, hat sie wieder ein gutes Verhältnis, ist Oma und Uroma, hat seit Jahren einen neuen Partner. „Meine große Familie, in der jeder für den Anderen da ist, gibt mir Kraft.“
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Die schöpft sie immer noch, auch bei den Gruppentreffen der Anonymen Alkoholiker. „Die wöchentlichen Treffen sind ganz wichtig, denn das Leben geht ja weiter, und auch Probleme gibt es immer mal. In der Gruppe, in der ich viele Freunde gefunden habe, kann sich jeder, auf Deutsch gesagt, seelisch auskotzen und wird verstanden. Wir alle lernen dort: Es gibt keinen Grund zu saufen.“