Gladbeck. Was ein dreckiger Kinderwagen mit der Polizei zu tun hat und Einblicke ins Gladbecker Geiseldrama. Ex-Polizist Rüdiger Kümmel erzählt.
Als Rüdiger Kümmel in den Dienst als Freund und Helfer eintrat, gab es noch Polizeihauptwachmeister. Die Uniform hatte lange Zeit derzeit den mehr oder minder frischen Farbton „Bambus“. Der heute 62-Jährige war ohne Schutzweste und ohne Waffe auf den Straßen von Gladbeck unterwegs. Dass einmal ausgerechnet diese Stadt mit einem Geiseldrama weltweit Schlagzeilen machen würde, das hätte er sich niemals gedacht. Hautnah erlebte er die Tragödie mit und gibt jetzt kritische Einblicke in die Geschehnisse vom 16. bis 18. August 1988. Und der Polizist im Ruhestand hat noch vieles mehr zu erzählen.
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Denn in mehr als 40 Jahren hat der Beamte, das „Gladbecker Gesicht der Polizei“, so einiges gesehen, gehört, durchlebt und – ja, auch das – mitgefühlt. Das bringt ein Beruf, in dem der Kontakt mit Menschen im Zentrum steht, halt mit sich. So hatte es sich Rüdiger Kümmel auch vorgestellt und gewünscht.
Kneipen-Schlägereien gab‘s früher häufiger in Gladbeck
Sozialarbeit, das wäre für ihn auch noch eine Option gewesen, um seine Brötchen zu verdienen. Aber dann fiel die Entscheidung eben doch für die Tätigkeit in Uniform aus. Übrigens: Er ist das erste und bisher einzige Familienmitglied als Polizist. Mutter Hausfrau, Vater Galvaniseur: Rüdiger Kümmel wurden also Revolver und Schlagstock nicht in die sprichwörtliche Wiege gelegt.
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Wer nun denkt, dass Kümmel von Anfang an einen spannungsgeladenen Berufsalltag durchzustehen hatte, der ist gehörig auf dem Holzweg. Der Ruheständler warnt rückblickend denn auch: „Wer bei der Polizei vor allem Abenteuer erleben will, der ist hier an der falschen Adresse.“ Sicher, er sei Motorrad gefahren, Hubschrauber geflogen und habe es mit interessanten Menschen zu tun gehabt. Da ging es jedoch beileibe nicht nur um der Widerspenstigen Zähmung.
Alltagsgeschäft: Missachtung der Rechts-vor-links-Regel
Bisweilen mutet das Polizisten-Dasein von anno dazumal eher wie das eines Wachtmeisters Dimpfelmoser aus dem „Räuber Hotzenplotz“ von Otfried Preußler an. Geradezu harmlos klingen die einstigen Vergehen im Vergleich zu heutigen Problemen. „Kneipen-Schlägereien, bei denen sich fünf, sechs Leute prügelten, waren nichts Ungewöhnliches“, erzählt Kümmel. Damals gab‘s noch Schankstuben – und kein Coronavirus mit all seinen gesellschaftlichen Nebenwirkungen.
Ein altes Foto aus dem Jahre 1982 zeigt den Polizeibeamten bei einem Autounfall. Männer im Pullunder, berockte Frauen stehen interessiert daneben. Rechts vor links missachtet, da hat‘s dann gekracht. Alltagsgeschäft. Im Laufe der Jahrzehnte sollte es der Gladbecker mit noch ganz anderen Kalibern von Einsätzen zu tun bekommen...
Rüdiger Kümmel machte sein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg
Rüdiger Kümmel startete seine Laufbahn unter ganz anderen Bedingungen, als es Polizeikräfte in den 2020ern tun. Mit dem Realschulabschluss in der Tasche ging er im Jahre 1977 zunächst zum Bundesgrenzschutz. „Die Ausbildung zum Polizeibeamten habe ich in Niedersachsen absolviert“, erzählt Kümmel und lässt durchblicken: Dort, irgendwo Jottwehdeh, war der Alltag alles andere als atemberaubend.
Ähnlich „spannend“ war die nächste Station Kümmels. Objekt- und Personenschutz für den Bundestag in Bonn. Karl Carstens war damals deutscher Bundespräsident. Auch dieses Kapitel ist Geschichte. Längst wird die große Politik für Deutschland in Berlin gemacht. Und Rüdiger Kümmel baute zwischenzeitlich auf dem zweiten Bildungsweg sein Abitur. „Sport und Sozialpädagogik waren Schwerpunkte, die mir später sehr geholfen haben“, sagt der 62-Jährige.
Ein Einschnitt in seiner Karriere, die er jetzt als Polizeihauptkommissar beendete: das Gladbecker Geiseldrama. Unvergessen ist das Verbrechen, in dessen Verlauf drei Menschen starben. Die Täter Dieter Degowski und Hans-Jürgen Rösner, dessen Freundin Marion Löblich zeitweise beteiligt war, überfielen im August 1988 in Rentfort-Nord eine Filiale der Deutschen Bank.
Auf ihrer 54-stündigen Flucht durch Nordrhein-Westfalen, Bremen und die Niederlande nahmen sie mehrere Geiseln. Die Bilder des Stopps in Köln, als Journalisten das Fahrzeug der Täter umlagerten, gingen um die Welt. Die Katastrophe steuerte auf der Autobahn 3 bei Bad Honnef ihrem Höhepunkt zu. Ein Spezialeinsatzkommando griff zu, eine Geisel im Wagen kam ums Leben. Die Täter wurden festgenommen. „Ich war auf Gladbecker Boden auch dabei“, sagt Rüdiger Kümmel schlicht. Wie viel hinter diesem Dabeisein steckt, erzählt er dann aber auch.
Gladbecker Geiseldrama – ein Gerangel um Zuständigkeiten
„Ich habe die Telefonstandleitung betreut. Also das, was andere gesagt haben, nach Düsseldorf weitergegeben.“ Er fügt erklärend hinzu: „Die GSG9 war hier mit einer Gruppe.“ Aber es erfolgte kein Zugriff in Gladbeck. Durch die Telefoniererei – „Bremen ruft in Gladbeck an“ – und das Hin-und-Her um Zuständigkeiten sei viel Zeit verplempert worden. Kümmel gesteht: „Ich habe damals über die Taktik nicht nachgedacht. Mit heutigem Interna-Wissen würde ich sagen: Es hätte anders laufen müssen.“
Degowski und Rösner waren für den Gladbecker Polizeibeamten bereits vor der Geiselnahme kein unbeschriebenes Blatt: „Ich kannte beide, wenn auch auf anderer Ebene. Rösner, der aus Alt-Rentfort stammte, würde ich unter Kleinkriminelle fassen.“ Und mit Degowski habe er dienstlich, so Kümmel, zwei Tage vor dem Drama auf der Roßheidestraße zu tun gehabt. „Er hat dort betrunken randaliert“, entsinnt sich der ehemalige Polizist. Marion Löblich sei ihm gleichfalls keine Unbekannte gewesen, „sie wohnte in Rentfort“. Der frühere Polizist meint: „Das haben sich Degowski und Rösner wahrscheinlich alles anders vorgestellt.“
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Seit diesen Tagen hat sich einiges bei Polizei und Medien getan, man habe aus den Fehlern gelernt. Die Zeiten haben sich ohnehin geändert, das Klima sei rauer geworden. Kümmel stellt fest: „Es wird alles sofort infrage gestellt. Der Respekt ist weniger geworden. Seit Corona haben sich diese Entwicklungen verschärft.“ Durch die enorme mediale Verbreitung werde jede Maßnahme hinterfragt. Und die Menschen erstatten nach Kümmels Einschätzung häufiger Anzeige. „Wenn zwei Kinder sich prügeln, wurde das früher untereinander geregelt. Heutzutage wird die Polizei eingeschaltet.“
Weiteres Beispiel: eine Prügelei zwischen bulgarischen Familien, bei der die Polizei anrückte. Auslöser sei gewesen, dass „eine Frau zur anderen gesagt hat: Dein Kinderwagen ist dreckig.“
Egoismus und Anspruchsdenken haben sich ausgeweitet
Notorische Nörgler und Querköpfe habe es immer gebeten, sie seien jedoch nicht politisch motiviert gewesen. Die „Ich-ich-ich-Haltung“ und hohes Anspruchsdenken breiteten sich aus. Vorbehalte gegenüber Nicht-Deutschen – gang und gäbe. Er selbst sei mit türkischen Kindern aufgewachsen: „Kein Problem. Ich habe von dem Miteinander echt profitiert.“ A und O als Bezirkspolizist sei, „sich empathisch auf einer Ebene einzufinden“.
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Der 1,92-Meter-Hüne, verheiratet und Vater dreier Töchter, mahnt: „Mein Gegenüber ist ein Mensch. Seine Nation ist mir schnurzegal. Es gibt keine Menschen dritter Klasse.“ Polizist würde er immer wieder werden wollen. Auch wenn er Blessuren davon getragen habe: zweimal die Nase gebrochen, jeweils einmal eine Rippe und einen Fuß. Wie sehr ihm sein Beruf im Blut liegt, zeigt sich, kaum dass er die Redaktion verlassen hat. Draußen fuchtelt jemand in der Fußgängerzone mit einem Messer herum, Rüdiger Kümmel schnappt sich kurzerhand die Waffe und ruft seine Kollegen – pardon: Ex-Kollegen. Er befindet sich ja im Ruhestand.