Gladbeck. Schülerin Lina Busse (19) hat mit Vertriebenen über ihre Erfahrungen gesprochen. Die berichten schockierendes über Tod und Vergewaltigung.
„Das ist harte Kost. Kein Thema für Kinder.“ Da wird Lina Busse ganz ernst. Die 19 Jahre alte Schülerin der Freien Waldorfschule in Gladbeck hat ihr aufwendiges Videoprojekt zu einem schweren Thema gerade fertiggestellt, zu einem Thema, das trotz seiner Relevanz oft unter dem Radar fliegt: „Flucht und Vertreibung“. Sie hat mit Sudetendeutschen und Donauschwaben gesprochen, deutschen Menschen also, die im 20. Jahrhundert aus ihrer Heimat vertrieben wurden – und die oft grausame Geschichten ihrer Flucht zu berichten haben. Der Film, der aus diesen Gesprächen entstanden ist, wird am Freitag, 16. Februar, ab 19 Uhr in der Aula der Freien Waldorfschule erstmals der Öffentlichkeit gezeigt, der Eintritt ist frei.
Wie kommt man als junge Schülerin, die noch dazu mitten im Abitur steckt, dazu, sich eines so harten und komplexen Themas anzunehmen? „Meine Oma ist Sudetendeutsche, und die Vertreibung war schon öfter Thema in meiner Familie. Ich habe viel mit ihr darüber gesprochen und auch schon einmal ein Videointerview aufgenommen.“ Nach und nach entwickelte sich der Wunsch, dem Schicksal der Vertriebenen mehr Öffentlichkeit zu schaffen, und schließlich trat Lina Busse an einen Lehrer heran. Ob sie das Projekt wohl angehen sollte? Sollte sie, fand nicht nur ihr Lehrer, sondern die ganze Schule, die die Videodokumentation finanziert hat.
Gladbecker Videograf unterstützt Lina Busse bei Interviews mit Zeitzeugen
Das Geld brauchte Busse für ihren Videografen. „Ich bin da sehr blauäugig drangegangen. Ich dachte, ich setze mich einfach mit dem Handy da hin und lasse mir was erzählen.“ Ganz so einfach war es nicht, aber zum Glück landete sie schließlich bei Pierre Jérôme Schneider, auch bekannt als „Jexs Pictures“. Der Gladbecker Schüler und Videograf „professionalisierte“ die Dreharbeiten mit Scheinwerfern, Kameras und Mikrofonen. „Wir haben uns echt gefunden, und sehr gut harmoniert. Ich war da rundum sehr gut betreut“, freut sich Lina Busse sichtlich. Die Idee sei zwar von ihr, „aber beinahe den größten Teil hat Pierre geleistet“.
Mit ein bisschen Hilfe der WAZ Gladbeck – einem Aufruf in dieser Zeitung folgten acht Menschen – hatte die Schülerin schließlich auch ihre Protagonisten gefunden, drei Frauen und ein Mann, aus Gladbeck und Marl. „Ich habe mich erstmal mit ihnen getroffen, zum Kennenlernen. Beim zweiten Treffen war dann auch Pierre dabei, und ich habe meine Fragen gestellt.“ Was sie von allen vier Teilnehmern zu hören bekam: „Super, dass das jemand macht.“
Gladbecker Film: Geschichten von Vergewaltigung und Tod
„Wir sind sehr schnell ins Reden gekommen, ich musste oft auch kaum Fragen stellen. Die vier waren sehr froh, dass sich jemand für dieses Thema interessiert. Und ihnen war auch wichtig, die Parallelen zu heutigen Fluchtbewegungen im Ukrainekrieg oder im Israelkonflikt zu betonen.“ Insgesamt acht Stunden Videomaterial standen am Ende, das Lina Busse auf einen 80-minütigen Film eingedampft hat. „Das war nicht leicht. Da war so viel Wichtiges dabei.“
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Zu viel Wichtiges auch in den 80 Minuten, als dass man hier alles erzählen könnte – dafür gibt es ja den Filmabend am Freitag. Einen kleinen Einblick gibt Lina Busse trotzdem schonmal. „Ich habe mich beinahe erschrocken, wie lapidar die vier über wirklich unmenschliche Dinge gesprochen haben. Geschichten von Vergewaltigung, von Tod. Das Thema geht sehr nah. Deswegen habe ich den Fokus auch auf das Emotionale gelegt. Der Film sollte keine nüchterne Dokumentation werden.“
Flucht in Viehwagons, Leben bei Minus 20 Grad
So erzählen die alten Herren und Damen, wie sie in Viehwaggons abtransportiert wurden, mit 50 bis 80 Menschen in einem Waggon, ohne Toilette, eine Woche lang. Vom Leben im Flüchtlingslager bei Minus 20 Grad, ohne Essen. Davon, wie Mutter und Tante vergewaltigt wurden und die Oma einen Schlag in den Magen bekam, weil sie dazwischengehen wollte.
Trotz alledem, oder gerade deswegen, war das Projekt eine Herzensangelegenheit für Lina Busse, das spürt man, wenn sie davon erzählt. „Das Thema soll einfach Aufmerksamkeit erfahren, es ist auch für meine Generation wichtig. Wir haben noch die Kontaktpunkte, Oma und Opa sind noch da. Wir sollten das nutzen, dass sie uns etwas erzählen können.“ Die Schülerin gibt ihrem Videoprojekt dann eine Art Überschrift, quasi eine Intention: „Krieg ist nicht vorbei, wenn die Waffen ruhen. Flucht ist eine Auswirkung von Krieg. Man darf nicht vergessen, was da für ein Leid dranhängt.“