Gelsenkirchen.

Braucht Gelsenkirchen einen Bürgerhaushalt? Das Thema ist nicht neu, wirklich nicht. Aber es gewinnt angesichts der mangelhaften Finanzausstattung der Städte zusehends an Dynamik. Den Grünen liegt die Einführung sehr am Herzen. Bereits im September 2011 erläuterte Fraktionssprecher Peter Tertocha seine Vorstellungen und brachte anschließend einen Antrag auf den Weg. Für ihn ist es eine logische Konsequenz nach der Einführung des Neuen Kommunalen Finanzmanagements (NKF) nun diesen Schritt zu gehen.

Um so enttäuschender war für Tertocha die Behandlung des Tagesordnungspunktes in der jüngsten Sitzung des Haupt-, Finanz-, Beteiligungs- und Personalausschusses (HFBP). Eine intensive Diskussion um mögliche Modelle gab es nicht, Vorschläge der anderen Fraktionen ebenfalls nicht – die Grünen wiederum präferieren nach wie vor das Potsdamer Modell.

Haushalt für 2013 sorgt für Stress

Die SPD erinnerte in Person des Fraktionsvorsitzenden Klaus Haertel daran, dass auch der Bürgerhaushalt im Verfahren Geld koste, das nicht vorhanden sei, egal welches Modell man nun wählen würde. Und mahnend erinnerte er: „Wir müssen auch den Sanierungsplan im Blick behalten.“

Werner Wöll (CDU) erkennt in dem Vorhaben, den Bürgerhaushalt in diesem Jahr aufstellen zu wollen, ein großes Zeitproblem, weil: „Wir ja eventuell noch in diesem Jahr den Haushalt für 2013 aufstellen müssen.“ Er schlug zudem vor, das Thema mit in die Gespräche aufzunehmen, die ein interfraktioneller Finanzausschuss führen soll. Dazu lädt die SPD (die WAZ berichtete) bekanntlich die demokratischen Fraktionen im Rat der Stadt ein.

"Um dem Trend entgegenzuwirken"

Oberbürgermeister Frank Baranowski (SPD) bestätigte den Zeitdruck im HFBP mit dem Hinweis verbunden, dass dies inklusive der Aufstellung eines Sanierungsplanes bis Ende November eng verknüpft sei mit einer möglichen Teilnahme an der zweiten Stufe des Stärkungspaktes.

Monika Gärtner-Engel (AUF) wiederum sah in der Einführung eines Bürgerhaushaltes ein sehr gutes Instrument der Beteiligung. Und: „Er kann eine wichtige Funktion haben, um dem Trend entgegenzuwirken.“

Am Donnerstag, 9. Februar, soll über den Antrag der Grünen in der Ratssitzung (Beginn 15 Uhr, Emscherstraße 66) beraten werden

Was ist ein Bürgerhaushalt?

Am Verfahren beteiligen sich interessierte Bürger einer Stadt (wie Gelsenkirchen beispielsweise) ohne politisches Mandat an der Erstellung und/oder Umsetzung öffentlicher Finanzen. In Potsdam etwa sind Bürger ab 14 Jahren stimmberechtigt.

Wie funktioniert ein Bürgerhaushalt?

Für Europa hat die Internetplattform www.buergerhaushalt.org einen Katalog mit fünf Kriterien formuliert, die ihrer Meinung nach erfüllt sein müssen, um tatsächlich von einem Bürgerhaushalt sprechen zu können:

  • 1. Im Zentrum der Beteiligung stehen finanzielle Angelegenheiten, es geht um begrenzte Ressourcen.
  • 2. Die Beteiligung findet auf der Ebene der Gesamtstadt oder auf der eines Bezirks mit eigenen politischen und administrativen Kompetenzen statt.
  • 3. Es handelt sich um ein auf Dauer angelegtes und wiederholtes Verfahren. Ein einmaliges Referendum zu haushalts- oder steuerpolitischen Fragen ist nach dieser Definition kein Bürgerhaushalt.
  • 4. Der Prozess beruht auf einem eigenständigen Diskussionsprozess, der mittels Internet oder Versammlungen geführt wird. Eine schriftliche Befragung allein ist kein Bürgerhaushalt. Ebenso nicht die bloße Öffnung bestehender Verwaltungsgremien oder Institutionen.
  • 5. Die Organisatoren müssen Rechenschaft in Bezug darauf ablegen, inwieweit die im Verfahren geäußerten Vorschläge aufgegriffen und umgesetzt werden.

Wie sehen die Beteiligungsphasen aus?

Das Grundmodell umfasst a) eine Information über den Haushalt der Kommune, b) eine Meinungsabfrage der Bürger sowie c) eine Rechenschaftslegung über die Annahme bzw. die Ablehnung der Vorschläge.

Was muss bei der Einführung beachtet werden?

  • 1. Oberstes Gebot ist und bleibt: größtmögliche Transparenz und Verständlichkeit auf allen Ebenen für Bürger.
  • 2. Es muss klar sein, ob und in welcher Form die im Rahmen der Mitwirkung vorgebrachten Anregungen und Hinweise vom Rat in seine Entscheidungen eingebracht werden und dort Berücksichtigung finden. Das Recht der letzten Entscheidung liegt immer bei der Kommunalvertretung (Rat).
  • 3. Es muss geklärt sein, ob eine Beteiligung vor der Erstellung oder nach der Einbringung des Haushaltsentwurfs durch die Verwaltung stattfindet.
  • 4. Im Internet ist Interaktion selbstverständlich – auch mit Blick auf eine Kommentierung und Bewertung durch Dritte. Damit erweitert sich das Meinungsbild beträchtlich.
  • 5. Rat und Verwaltung müssen die Öffentlichkeit möglichst transparent über die sehr komplexen Zusammenhänge der kommunalen Finanzwirtschaft informieren.
  • 6. Es sollte vorab geklärt sein, in welcher Form in den Abstimmungs- und den Diskussionsprozess eingegriffen werden darf.

Welche Kritik gibt es?

Der wichtigste Einwand zielt auf die Höhe der Beteiligung ab. Es gibt den Vorbehalt, ein Bürgerhaushalt sei nur etwas für eine kleine Gruppe Engagierter und nicht repräsentativ. Und: Kommunale Haushalte sind zu komplex, um sie in offenen Foren angemessen erörtern zu können. Außerdem ist die Einführung mit einem hohen Aufwand (Zeit, Personal, Geld) verbunden.

Ein Beispiel: Potsdam

Der Potsdamer Bürgerhaushalt 2012 wurde in einem gut sechsmonatigen Beteiligungsprozess in mehreren Runden durchgeführt. Vom 7. April bis 29. Mai 2011 war die Bürgerschaft aufgerufen, Vorschläge, Anregungen und Ideen zu unterbreiten. Danach fand eine Vorauswahl statt. Vom 22. August bis 20. Oktober fand die letzte Auswahl (Votierungsphase) statt. Ziel war es, die wichtigsten Vorschläge der Bürgerschaft zu ermitteln. Die Onlineabstimmung wurde am 9. Oktober abgeschlossen.

Letztmalig konnte bei der Abschlussveranstaltung an der Votierung teilgenommen werden. Am 2. November wurde die „Top 20 - Liste der Bürgerinnen und Bürger“ an die Stadtverordnetenversammlung übergeben. Die entscheidet nun über Annahme, Umsetzung oder Ablehnung der Anregungen. Mit einem Beschluss wird zum Ende des 1. Quartals 2012 gerechnet.