Gelsenkirchen. In dieser Gelsenkirchener Praxis kümmert man sich um das Wohl von Kinderseelen. Wo die Psychiaterinnen dringenden Handlungsbedarf sehen.

17 Menschen kümmern sich in der Praxis Uzelli/Rawert in Buer um das seelische Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen in Gelsenkirchen. Praxis-Gründerin Oya Uzelli, selbst ärztliche Kinder- und Jugendpsychiaterin und Psychotherapeutin, ist froh, dass sie neben den beiden ärztlichen Kollegen – ihrer Praxispartnerin Beatrix Rawert und Yücel Polat, beide ebenfalls ärztliche Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeuten – auch viele sozialpädagogische Professionen im Team vertreten hat.

Sozialpsychiatrische Versorgung muss gestärkt werden

Sozialpsychiatrische Versorgung ist nach ihrer Überzeugung der Schlüssel für eine erfolgreiche Arbeit mit ihren jungen Klientinnen und Klienten. „Ich habe den ärztlichen Blick auf die Patientinnen, aber meine pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben eine andere Perspektive, eine andere Sicht darauf. Das ist sehr wichtig“, betont Oya Uzelli.

Auf 400 Quadratmetern, verteilt auf zwei Etagen, betreut das seit 2018 an der Mühlenstraße 9 residierende Team je Quartal etwa 1000 bis 1200 Heranwachsende mit unterschiedlichstem psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungsbedarf. Die Patienten sind zwischen zwei und 21 Jahren jung, die größte Gruppe stellen Grundschüler kurz nach Schulbeginn und Pubertierende. Froh ist Oya Uzelli, dass sich direkt neben ihrer Praxis im Haus zwei ärztliche Psychiater für Erwachsene mit ihrer Praxis niedergelassen haben. So kann sie ihre Patienten, wenn diese weiteren Behandlungsbedarf nach Vollendung des 21. Lebensjahres haben, direkt weiterleiten. Für Erwachsene gebe es lange Wartezeiten für Therapieplätze, sagt Oya Uzelli. Der nahtlose Übergang sei dann auch dank Übergabe der Akten – mit Zustimmung des Patienten – optimal.

Uzelli: Notfalltermine binnen einer Woche, Therapiestart nach vier Wochen möglich

Apropos lange Wartezeiten. Die sieht die Psychiaterin im Jugendbereich nicht so ausgeprägt. „Ich kann binnen einer Woche einen Notfalltermin anbieten. Und den ersten Therapietermin können wir – je nach terminlicher Flexibilität der Patienten – binnen drei bis vier Wochen anbieten“ versichert sie. „Wir haben keine erhebliche Unterversorgung bei den ärztlichen Psychiatern. Der Bedarf in der sozialpädagogischen Betreuung ist größer. Wir müssen die Schnittstellen besser in den Griff bekommen, vernetzter arbeiten. Deshalb bin ich so froh, dass das in unserem multiprofessionellen Team so gut möglich ist“, erklärt Oya Uzelli.

Alle Sprechzimmer der Therapeuten sind mit umfangreichen Spielmaterialien ausgestattet. Auch ein Tisch-Sandkasten gehört dazu. Hier können Erlebnisse der Kinder mit Spielfiguren nachgestellt werden oder auch Familienaufstellungen spielerisch vollzogen werden.
Alle Sprechzimmer der Therapeuten sind mit umfangreichen Spielmaterialien ausgestattet. Auch ein Tisch-Sandkasten gehört dazu. Hier können Erlebnisse der Kinder mit Spielfiguren nachgestellt werden oder auch Familienaufstellungen spielerisch vollzogen werden. © FUNKE Foto Services | Heinrich Jung

Viel mehr Schulverweigerer und Störungen im Sozialverhalten

Depressionen, ADS und ADHS, emotionale Entwicklungsstörungen und Störungen im Sozialverhalten und vor allem Schulverweigerung: all das ist mehr geworden, haben Oya Uzelli und Beatrix Rawert festgestellt. „Wir können ADS und ADHS wunderbar medikamentös therapieren, sogar mit genauer Planung in welchen Zeiträumen die Medikamente wirken sollen. Das ist auch sehr begrüßenswert. Aber was vollständig fehlt, ist die Ursachenforschung. Es gibt einfach viel zu wenig Präventionsforschung in fast allen psychiatrischen Bereichen – obwohl Studien längst belegen, dass psychische Erkrankungen den höchsten Anteil an Krankschreibungen im Erwachsenenalter verursachen. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem“, klagt die Fachärztin Uzelli. Doch dafür fehlten wohl die Geldgeber.

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Natürlich sehen die beiden Fachärztinnen auch Zusammenhänge bei der Zunahme einiger Störungsbilder mit gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen. Reizüberflutung schon im Kleinkindalter, ablesbar an Zweijährigen, die beim Bilderbuch versuchen, das nächste Bild durch wischen aufzublättern, ist ein Fakt. „Vielleicht entwickelt sich die Technik schneller als die Gehirne der Menschen“, vermutet Beatrix Rawert, nur halb im Scherz.

Sicher sind beide, dass Verunsicherung bei den Eltern eine große Rolle spielt. „Eltern trauen sich immer weniger zu, sind verunsichert“, hat Oya Uzelli beobachtet. Dramatisch sei, wenn Eltern ihre Kinder erst extrem spät, etwa nach mehr als einjährigem Fernbleiben von der Schule in der Praxis anmelden. „Schulabsentismus hat nach dem Homeschooling in den Coronajahren noch stark zugenommen. Aber so etwas wie dauerhafte Schulverweigerung müsste doch viel früher bemerkt werden und dann muss schnell gehandelt werden“, mahnt die Psychiaterin.

Bei der Arbeit mit Dolmetschern kann sehr viel Erkenntnis verloren gehen

Der Anteil von Patienten in der Bueraner Praxis mit Migrationshintergrund ist vergleichsweise hoch, er liegt bei 30 bis 40 Prozent, schätzt Uzelli. Ein Grund sei sicher, dass sie selbst als türkische Muttersprachlerin und mit Team-Mitarbeitenden, die arabisch und türkisch sprechen, eine für diese Patientengruppe besonders gute Anlaufstelle seien. „Bei der Arbeit mit Dolmetschern ist ein Problem, das viele Dolmetscher erst eingeführt werden müssen in die Regeln. Viele Dolmetscher wissen zunächst nicht, wie wichtig es ist, wörtlich zu übersetzen, in der „Ich-Form“, ohne Umformulierung. Und wie wichtig es für unsere Arbeit ist, die mit den Worten verbundene Mimik zu sehen. Abgesehen davon dauert eine gründliche Anamnese mit Dolmetscher doppelt so lange wie sonst. Es müssen ja auch meine Fragen wiederholt werden“ gibt sie zu bedenken. „Migrationshintergrund ist kein Problem: Sprache ist das Problem“, versichert auch Beatrix Rawert.

Vor allem aber die Vernetzung mit der Jugendhilfe, mit sozialpädagogischen Angeboten aller Art, sei wesentlich für die gute Begleitung von Heranwachsenden. Und trotz ihrer Einschätzung, dass die Versorgung mit ärztlichen Kinder- und Jugendpsychiatern besser ist als vermutet, räumen die Fachärztinnen ein, dass es auch in diesem Bereich Engpässe geben könnte in naher Zukunft.

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„Unsere Fachrichtung ist noch sehr jung, aber viele unserer Kollegen sind bereits im fortgeschrittenen Alter. Und der Nachwuchs kommt spärlich“, wissen die beiden, die sich mit Yücel Polat eigens einen jüngeren Arzt-Kollegen ins Team geholt haben. Die Ausbildung – erst ein Studium der Humanmedizin, dann eine langwierige Ausbildung als Psychotherapeuten – ist lang. „Und trotzdem wird man nicht Millionär in unserem Bereich. Aber darum geht es uns auch nicht. Wir machen unsere Arbeit gern. Sehr gern“, versichert Uzelli, selbst dreifache Mutter. „Und tatsächlich überlege ich bei jedem Rat, den ich Eltern und Kindern gebe, wie ich bei meinen Kindern in so einem Fall handeln würde.“ Einer ihrer Söhne gehört mittlerweile übrigens mit zum multiprofessionellen Team.

Ein ärztlicher Psychiater für 15.210 Null-bis 18-Jährige gilt als Vollversorgung

15.210 Kinder und Jugendliche je ärztlichem Psychotherapeuten gelten für den Versorgungsschlüssel als Basis. In Gelsenkirchen sind es bei 54.448 Heranwachsenden zwischen Null und 18 Jahren jedoch 330 Kinder mehr je ärztlichem Psychiater. Dennoch gilt Gelsenkirchen als überversorgt laut Berechnungen der Kassenärztlichen Vereinigung (KVWL). Der Grund: Der ärztliche Bedarf im Jugendbereich wird auf regionaler Ebene ermittelt, wodurch Gelsenkirchen mit Recklinghausen und Bottrop gemeinsam betrachtet wird. 15 Sitze stehen der Region zu – davon sind in Gelsenkirchen laut KVWL 3,5 Sitze wirklich von niedergelassenen ärztlichen Kinder- und Jugendpsychiatern besetzt. Davon allein drei in der Praxis Uzelli/Rawert, ein weiterer Sitz in Ückendorf ist laut KVWL nur zur Hälfte besetzt. Ein weiterer Jugendpsychiater in der Stadt therapiere jedoch vorwiegend junge Erwachsene, kaum Kinder. Laut KVWL ist die Region überversorgt, es gilt eine Niederlassungssperre.

Niederlassungssperre wegen Überversorgung laut KVWL

„Attraktive“ Städte wie Münster oder Düsseldorf sind übrigens noch stärker überversorgt, weil bis zum Jahr 2014 Niederlassungsfreiheit herrschte und daher keine Begrenzung galt. Nach Einführung der Grenzen durften diese Praxen vor Ort bleiben.