Gelsenkirchen. Die Verdachtsfälle für Kindeswohlgefährdung in Gelsenkirchen sind weiter gestiegen. Mehr Kinder melden sich freiwillig für eine Inobhutnahme.

Gibt es Hinweise, dass eine Kindeswohlgefährdung in Gelsenkirchen vorliegt, greift das Jugendamt ein. Die schärfste Maßnahme ist die Inobhutnahme, die vorübergehende Unterbringung der Kinder und Jugendlichen in einem Heim oder einer Pflegefamilie. Vor Kurzem erst sammelte die Polizei ein Kleinkind Barfuß mit Pyjama auf der Straße ein.

In Gelsenkirchen ist laut aktuellen Zahlen des statistischen Landesdienstes IT.NRW ein neuer Höchststand erreicht. Demnach wurden insgesamt 326 Inobhutnahmen im Jahr 2022 vom Jugendamt durchgeführt. Somit sind die Fälle um über 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr 2021 gestiegen. Das ist – seitdem die Statistik 2013 eingeführt wurde – der höchste Wert.

Immer mehr unbegleitete Kinder aus dem Ausland kommen nach Gelsenkirchen

In rund vier von zehn Fällen in NRW war die Einreise einer minderjährigen Person aus dem Ausland der Grund für die Schutzmaßnahme. In Gelsenkirchen trifft das sogar auf knapp sechs von zehn Fälle zu: Insgesamt wurden 207 unbegleitete ausländische Kinder in Obhut genommen.

Eine so hohe Zahl wurde zuletzt 2016 gemeldet. „Die meisten Kinder und Jugendlichen kamen im vergangenen Jahr aus Syrien, Afghanistan und der Ukraine“, sagt Wolfgang Schreck, Leiter des Gelsenkirchener Jugendamtes. 20 unbegleitete ukrainische Kinder hat das Jugendamt dieses Jahr bereits aufgenommen, für Schreck eine geringe Anzahl im Vergleich zur Summe der in Gelsenkirchen Schutz suchenden Ukrainerinnen und Ukrainer.

Wolfgang Schreck arbeitet seit über 30 Jahren im Gelsenkirchener Jugendamt.
Wolfgang Schreck arbeitet seit über 30 Jahren im Gelsenkirchener Jugendamt. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Jugendamt Gelsenkirchen: Gestiegene Fälle der Inobhutnahmen auch durch Corona

Ursachen für die gestiegene Zahl der Inobhutnahmen sind laut Statistik Beziehungsprobleme und Überforderung der Eltern sowie die Vernachlässigung der Kinder. „Das ist auch eine Spätfolge der Corona-Pandemie“, glaubt Schreck. Denn gerade in den Jahren 2021 und 2022 hatten die Schulen und Kindergärten wieder kontinuierlich geöffnet. „Somit konnten mehr Kindeswohlgefährdungen erst auffallen und dann gemeldet werden.“ Diese Annahme spiegelt die Statistik wider: Seit Anfang 2020 – zu Beginn der Pandemie – haben die Fälle der Inobhutnahmen leicht abgenommen. Erst im vergangenen Jahr sind sie wieder gestiegen.

Auffallend ist die hohe Zahl der Kinder und Jugendlichen, die aus eigenem Wunsch heraus ihre Familie verlassen wollten. Laut Statistik betrifft das 123 und damit mehr als doppelt so viel wie im Jahr 2021. Das ist ebenfalls ein neuer Höchstwert seit Beginn der Statistik. Eine plausible Erklärung für diesen Anstieg kenne Schreck nicht. Vermehrt hätten vor allem Jugendliche diesen Wunsch geäußert. Er glaubt, dass auch „die Belastungen aus der Corona-Pandemie dabei eine Rolle spielen.“

Die Schulen waren geschlossen, die sozialen Kontakte eingeschränkt. Die Isolation habe dazu geführt, dass die Jugendlichen stärker mit ihren Eltern aneinandergerieten. „Manchmal endete die Situation auch in Gewalt“, erklärt Schreck. Das Ziel des Jugendamtes sei es dann, die Betroffenen zu unterstützen, aus der Situation rauszuholen und Lösungen zu finden. Grundsätzlich ist es aus Sicht des Jugendamtes aber auch gut, dass sich die Jugendlichen trauen, selbst Kontakt mit dem Amt aufzunehmen. Schließlich spreche das für einen erleichterten Zugang und größerer Bekanntheit der Kinderrechte. Um die Kontaktaufnahme weiter zu erleichtern, arbeitet das Gelsenkirchener Jugendamt derzeit an einer App – speziell für die Themen Kinderschutz und Gewalt in Familien.