Gelsenkirchen. Der Bedarf an psychiatrischer und psychotherapeutischer Unterstützung wächst. Eine WAZ-Serie beleuchtet das knappe Angebot in Gelsenkirchen.
Die psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung in Gelsenkirchen ist sehr gut – das lässt zumindest die Versorgungsquote glauben, die die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) auf Basis der Vorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses der Länder errechnet. Aus Sicht von Gelsenkirchener Patienten, die wochenlang auf einen Therapieplatz warten müssen und dann nur Termine mit (zu) langen Abständen dazwischen bekommen, klingen die genannten Versorgungsgrade allerdings wie ein Hohn.
Großer Mangel vor allem im Kinder- und Jugendbereich
Vor allem im Kinder- und Jugendbereich ist der Mangel groß. „Die ersten Probleme treten meistens schon in der Kita auf. Da ist es wichtig, so früh wie möglich zu reagieren, um spätere, extreme Folgeerkrankungen zu verhindern“, warnt die ärztliche Gesundheitsreferatsleiterin Emilia Liebers.
Es gibt theoretisch zwar drei ambulant tätige Praxen mit insgesamt 4,5 ärztlichen Psychiatern für Kinder und Jugendliche. Doch drei davon arbeiten in der gleichen Praxis in Buer, eine hat lediglich einen halben Sitz und die dritte Praxis therapiert faktisch fast nur junge Erwachsene. Wer mit der erstgewählten Therapeutin beziehungsweise dem ersten Therapeuten nicht gut zurechtkommt, weil aus irgendeinem Grunde die Chemie zwischen Kind und Therapeut nicht stimmt, hat kaum eine Wahl. Und wer das Glück hat, einen passenden Therapeuten gefunden zu haben, bekommt im allerbesten Fall einen Termin je Woche.
Depressionsdiagnose mit zwölf Jahren
Die erste Depressionsdiagnose bekommen Kinder heute laut Statistik mit zwölf bis 14 Jahren, erklärt Liebers. Die Probleme aber bestehen in der Regel schon sehr lange. Bei 3,5 ärztlichen Kinder- und Jugendpsychiatern in Gelsenkirchen und wenigen Kinderpsychotherapeuten sind präventive Arbeit, ein frühes Einschreiten bei den ersten erkennbaren Störungen und zeitnahe Termine in einer für den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zwischen Kind und Therapeut wichtigen engen Taktung schwer möglich.
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Der Versorgungsgrad bei fachärztlichen Kinder- und Jugendpsychiaterinnen wird nicht stadtspezifisch, sondern für die Emscher-Lippe-Region erhoben. 15 besetzte Vollzeitstellen stehen für die 169.000 Minderjährigen in Gelsenkirchen, Bottrop und dem Kreis Recklinghausen zur Verfügung. Das ergibt laut KVWL einen Versorgungsgrad von 132,2 Prozent. Übrigens: Die Region Münster kommt auf 149 Prozent.
Ein grundlegendes Problem der 1992 eingeführten Bemessungsgrundlagen ist, dass die Struktur von Städten und die soziale Situation fast keine Rolle spielen. Als Berechnungsbasis dienen die Einwohnerzahl, Altersstruktur und Geschlecht, in sehr geringem Umfang auch die Zahl der Behandlungsfälle. Aber das ist ein Teufelskreis: Je weniger Therapeuten zur Verfügung stehen, desto weniger Fälle können auch behandelt werden.
Keine Rücksicht auf soziale Lage der Menschen in den Städten
„Sozioökonomische Faktoren wie Einkommen und Arbeitslosenquote stellen für die Ermittlung des ambulanten Versorgungsbedarfs keine quantifizierbare Größe dar“ befand ein Gutachten im Auftrag des Bundesausschusses noch 2018. Dass Gelsenkirchens Einwohner mehr Probleme haben könnten als Menschen in Münster, spielt deshalb bei der Bedarfsermittlung so gut wie keine Rolle.
Auch für Erwachsene ist die Versorgung mit 14,5 Fachärzten für Nervenheilkunde sowie für Psychiatrie und Psychotherapie zu 112,9 Prozent gesichert – laut Quote. Ein halber Sitz könnte theoretisch dennoch besetzt werden. Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie sind die Einzigen, die auch medikamentös therapieren dürfen.
Stationäre psychiatrische Hilfe für Kinder gibt es nur in Marl
Eine stationäre psychiatrische Versorgung für Kinder und Heranwachsende gibt es in Gelsenkirchen gar nicht. Am Bergmannsheil Buer steht zwar die psychiatrische Tagesklinik für Kinder und Jugendliche zur Verfügung. Wer aber eine stationäre Versorgung benötigt, etwa bei schweren Psychosen, Depressionen mit Selbstmordtendenzen oder extremen Schrei-Babys, der muss nach Marl-Sinsen in die Klinik, dem Pflichtversorger für Gelsenkirchen. Eine Möglichkeit, die für Familien mit mehreren Kindern, geringem Einkommen und ohne Auto wegen der weiten Wege und schlechten Erreichbarkeit gar keine Option ist, gibt Emilia Liebers zu bedenken. In einer Stadt mit 42 Prozent von Armut bedrohten und damit besonders gefährdeten und problembehafteten Kindern sind das nicht wenige Familien. Zum Bedarf: Laut Landesstatistik ist die Zahl der stationär behandelten, unter 18-Jährigen mit depressiven Episoden zuletzt um 29 Prozent gestiegen.
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Psychologische Psychotherapeuten fallen nicht in den Bereich fachärztliche Versorgung. 58,5 Vollzeitstellen gibt es für die 260.000 Gelsenkirchener; auch das gilt als Vollversorgung. Diese ebenfalls hoch qualifizierte Berufsgruppe übernimmt Gesprächs- und Verhaltenstherapien in unterschiedlichen Formen.
Die WAZ Gelsenkirchen will Ihnen, liebe Leser, nun in einer Reihe von Artikeln den aktuellen Versorgungsstand in stationären, teilstationären und ambulanten Bereichen der seelischen Gesundheit in Gelsenkirchen sowie Angebote der Kommune vorstellen. Den Auftakt macht aus aktuellem Anlass die am 1. August 2023 seit 25 Jahren am Bergmannsheil Buer angesiedelte Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie.