Gelsenkirchen. Zwei Kinderpsychologinnen können bestätigen: Ein Aufwachsen in Armut wirkt sich auf die Gesundheit der Kinder aus. Das sind ihre Erfahrungen.

Armut – sie zeigt sich nicht nur beim materiellen Besitz, sondern vor allem auch beim Blick auf die physischen und psychischen (Langzeit-)Folgen, die durch ein Leben am oder unter dem Existenzminimum entstehen. Wie wirkt sich Armut auf die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Gelsenkirchen aus? Zwei Expertinnen geben Antwort.

Bewältigung der Kinderarmut in Gelsenkirchen: „Das ist eine Herausforderung“

Christa Kaiser sieht die Bewältigung von Kinderarmut in dieser Stadt, den Umgang damit als „Gemeinschaftsaufgabe, Riesen-Projekt und Herausforderung“. Die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie betont, dass es vieler Menschen bedarf, um die Voraussetzungen für ein gesundes Aufwachsen gerade der von Armut betroffenen Kinder zu gewährleisten.

In ihrer Praxis in Ückendorf wird Christa Kaiser „der typische Querschnitt der Gelsenkirchener Gesellschaft im Süden“ vorgestellt. Sie kann bestätigen, auch aus allgemeinen Erfahrungen: Ein Aufwachsen in Armut wirkt sich eindeutig auf die (psychische) Gesundheit aus. Dr. Marion Kolb stimmt zu: „Armut, beziehungsweise ein niedriger sozioökonomischer Status, ist ein Risikofaktor, der das Entstehen psychischer Erkrankungen begünstigt, das zeigen auch große Studien“, so die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Leiterin der Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Bergmannsheil.

Dr. Marion Kolb ist Leiterin der Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Gelsenkirchener Bergmannsheil – sie sagt zum Thema Kinderarmut: „Kinder und Jugendliche, die in Hartz-IV-Familien aufwachsen, schämen sich oft.“
Dr. Marion Kolb ist Leiterin der Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Gelsenkirchener Bergmannsheil – sie sagt zum Thema Kinderarmut: „Kinder und Jugendliche, die in Hartz-IV-Familien aufwachsen, schämen sich oft.“ © FUNKE Foto Services | Lutz von Staegmann

Marion Kolb nennt Punkte, die ein Leben prägen: „Kinder und Jugendliche, die in Hartz-IV-Familien aufwachsen, schämen sich oft.“ Ein Grund: Das Aufwachsen in „prekären Familienverhältnissen und beengten Wohnräumen“. Kinder fühlten sich sozial isoliert aufgrund der schlechten finanziellen Situation, eine Teilhabe an Ausflügen oder Kindergeburtstagen sei kaum möglich. „Diese Kinder machen sich permanent Sorgen um die finanzielle Situation ihrer Familie“, weiß Marion Kolb.

„Viele der Kinder haben nicht das Netzwerk und den Rückhalt in den Familien“, kann auch Christa Kaiser bestätigen. Häufig steckten auch die Eltern in psychischen Krisen und Ausnahmesituationen – die Folge: „Die Betroffenen bilden eine geringere Resilienz aus, ihr Verhalten, Probleme auszugleichen und Widerstand zu leisten, ist geringer ausgeprägt“, weiß Christa Kaiser.

Kinderarmut in Gelsenkirchen: Wer psychisch belastet ist, wird auch oft körperlich krank

Marion Kolb hat Ähnliches beobachtet: „Die Familien, die zu uns kommen, haben oft viele Risikofaktoren gleichzeitig. Wer psychisch belastet ist, wird auch oft körperlich krank.“ Viele Kinder und Jugendliche würden, begleitend zu ihren kinder- und jugendpsychiatrischen Störungsbildern, auch kognitive, motorische und sprachliche Entwicklungsverzögerungen aufweisen – gleichzeitig mit „körperlichen Begleiterkrankungen, wie Diabetes, Bluthochdruck oder Übergewicht.“

Und was sind ganz konkret die Krankheitsbilder, welche psychischen Störungen treten auf? „Da gibt es die ganze Palette der psychischen Auffälligkeiten wie im Erwachsenenalter: von Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen, Ess- oder Schlafstörungen, emotionalen Störungen wie etwa Trennungsängsten bis hin zu spezifischen Phobien“, gibt Christa Kaiser Auskunft. „Im Moment behandeln wir sehr viele Jugendliche mit sozialen Phobien und depressiven Störungen mit Schulvermeidung, die ihren Alltag nicht mehr bewältigen können“, so Marion Kolb aus ihrem Alltag.

Arme Kinder in Gelsenkirchen: Schnelle Hilfe ist wichtig

Beide Medizinerinnen halten eine Vernetzung der Institutionen, eine enge Zusammenarbeit von Schulen, Kindergärten, des Jugendamtes, den Kinderärzten und -therapeuten für unabdingbar – denn: „Desto schneller sind Hilfen möglich“, so Marion Kolb. Doch es gibt Einschränkungen: Die Hürde, sich Hilfe zu holen, sei für manche Menschen subjektiv sehr hoch, meint Christa Kaiser. Die allermeisten Eltern seien sehr kooperativ, versuchten alles für ihr Kind zu tun.

„Je früher Kinder und Jugendliche unterstützt werden, desto besser sind ihre Entwicklungschancen“, ist auch Marion Kolb überzeugt. Niederschwellige Hilfsangebote und aufsuchende Hilfen sollten daher bei von Armut betroffenen Familien spätestens bei der Geburt eines Kindes erfolgen. „Gute Kitas und Schulen, in denen sich Kinder sicher fühlen und im Hinblick auf ihre Stärken ausreichend gefördert werden können, sind unerlässlich“, so Marion Kolb weiter.

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Kinderarmut ist das eine, Corona das andere: Die nicht enden wollende Pandemie hat viele Probleme noch einmal verschärft, da sind sich die beiden Ärztinnen einig. „Verschiedene Störungsbilder haben sich stärker ausgeprägt, soziale Ängste, Essstörungen, Schulvermeidungsverhalten. Der soziale Kontakt hat gelitten“, berichtet Christa Kaiser. „Die Corona-Krise und die wirtschaftlichen Folgen werden arme Familien besonders treffen und die Kinderarmut sowie die Bildungsungleichheit weiter steigen lassen“, ist Marion Kolb sicher. „Die Schwächsten in unserer Gesellschaft und im Familiensystem, sprich die Kinder und Jugendlichen, werden unsere Hilfe am meisten benötigen.“

Denn eines ist für die Entwicklung eines Menschen von Bedeutung: „Es darf nicht der bestimmende Faktor sein, ob ein Kind in einer reichen oder einer armen Familie groß wird. Es darf nicht sein, dass Armut das Schicksal der Kinder bestimmt“, so Christa Kaiser. Vielmehr sei wichtig, dass die Kinder gesehen würden, dass man sie ernst nehme, sich bemühe die Auffälligkeiten richtig einzuordnen. „Und, dass die Eltern nicht alleine gelassen werden.“

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