Gelsenkirchen. Die „Klinik für Seelische Gesundheit“ am EvK Gelsenkirchen ist Pflichtversorger für den Stadtsüden. Was beim Therapiekonzept hier besonders ist.
„Wir machen die Brot- und Butter-Versorgung im psychiatrischen Bereich für den Stadtsüden“, beginnt Prof. Dr. Peer Abilgaard die Vorstellung seiner Klinik für Seelische Gesundheit am Evangelischen Klinikum Gelsenkirchen. Was er damit meint, ist die Funktion seiner Klinik als Basis- und Pflichtversorger und damit als erste Anlaufstelle für die Bürgerinnen und Bürger südlich des Kanals mit stationärem psychiatrischen Behandlungsbedarf. Dabei kämen Patienten durchaus auch von außerhalb, auf Empfehlung von Kollegen, ergänzt er.
Ohnehin gehört zur psychiatrischen Versorgung seiner Klinik mehr als die Therapieangebote für bis zu 104 stationäre Patienten. Eine eigene Tagesklinik mit 20 Plätzen für teilstationäre Patienten an der Bruchstraße in Horst gehört ebenso zum Angebot wie die Institutsambulanz im Haus an der Munckelstraße. Ambulant, teilstationär und vollstationär – es ist die volle Palette.
Lebensumstände entscheidend bei Diagnose und Therapie
Dass er sich vor drei Jahren ausgerechnet in Gelsenkirchen beworben hat, einer Stadt mit sozial hoch belasteten Bürgerinnen und Bürgern, ist kein Zufall. Die hier vorhandene Sozialstruktur war ihm von der langjährigen Arbeit in einer Duisburger Klinik vertraut. Tatsächlich hängen nach seiner Überzeugung viele – auch körperliche – Erkrankungen und Probleme ebenso wie die psychiatrischen Ausprägungen entscheidend mit den Lebensumständen zusammen.
Bei Depressionen zum Beispiel – in Gelsenkirchen eine häufige Erkrankung – müssten die Lebensumstände und das Umfeld auf jeden Fall einbezogen werden. Gerade bei Depressionen kenne man bis heute nicht eindeutig die Ursachen. Genetische Veranlagung, traumatische Erlebnisse, soziale Probleme? „Lange glaubte man an fehlerhafte Neurotransmitter als entscheidende Ursache. Doch das ist eindeutig widerlegt. Die Ursachen sind multifaktoriell, also vielfältig. Es genügt nicht, Patienten mit Depressionen medikamentös zu versorgen und nur entsprechend der Leitlinien – an die wir uns natürlich halten – zu therapieren. Wir müssen immer auch auf das soziale Umfeld schauen“, mahnt Abilgaard.
Umso absurder ist seiner Überzeugung nach, eine Berechnung des psychiatrischen Versorgungsbedarfes in einer Stadt ohne Rücksicht auf soziale Faktoren – was aber gängige Praxis ist. Er und sein Team arbeite mit einem „bio-psycho-sozialen Krankheitsverständnis. Das muss man für alle Erkrankungen einbeziehen“, fordert er.
Vorbeugen durch Angebote im Quartier für benachteiligte Kinder
Dass nun auch in Gelsenkirchen die gemeindenahe psychiatrische Versorgung ausgebaut wird, schätzt der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, der auch als Lehrtherapeut und Supervisor tätig ist, besonders. Verbindungen in die Communitys will er mit neuen Gruppenangeboten über die Psychiatrische Institutsambulanz (PIA) ausbauen, etwa mit einem Frühstücksangebot für türkische Frauen ab Jahresbeginn 2024.
In der PIA gibt es ohnehin zahlreiche Gruppenangebote für ambulante Patienten, auch nach der Therapiephase. „Wünschenswert wäre auch noch viel mehr Prävention in den Quartieren, mit Angeboten von Sportvereinen, Pfadfinden, Unternehmen, um Kindern in schwierigem Umfeld einen guten Start zu ermöglichen. Vernetzung ist wichtig dafür“, betont der Professor.
Amphetamine machen bei Suchtpatienten die größten Probleme
Sozialarbeiter gibt es auf jeder Station der Klinik für Seelische Gesundheit. Rund 2000 Patienten werden im Haus stationär und teilstationär pro Jahr therapiert. In bis zu 100 Fällen gibt es komplexe Traumafolgestörungen, auf die Abilgaard sich auch spezialisiert hat. „Nach traumatischem Stress oder Erlebnissen fragen wir aber nicht nur diese Patienten, sondern alle bei der Anamnese (Aufnahmediagnostik, die Red.). Depressionen sind häufig auch Folge von Traumata. Das muss nicht Gewalt sein, es kann auch interpersoneller Stress sein“, erklärt der Arzt.
Rund ein Drittel der Patienten seien ältere Menschen mit Depressionen und dementiellen Veränderung, ein Drittel habe Suchtprobleme unterschiedlichster Art, wobei Amphetamine wegen des hohen Aggressionspotenzials besonders problematisch seien, die Verbleibenden leiden vor allem an selbstmörderischen oder selbstzerstörerischen Tendenzen. Eine Station mit (noch?) geschlossenen Türen ist Akutpatienten vorbehalten.