Gelsenkirchen. Andrea Henze und Simon Nowack sind seit einem Jahr an der Spitze der Stadt Gelsenkirchen. Was sie der Wirtschaft und armen Menschen versprechen.
Auf ihren Amtseintritt folgte eine Zeit der Krisen: Vor einem Jahr sind Andrea Henze (SPD) und Simon Nowack (CDU) als neue Dezernenten in die Gelsenkirchener Stadtverwaltung gewählt worden und seither für die Bereiche Arbeit und Soziales, Gesundheit und Verbraucherschutz bzw. Wirtschaftsförderung, Gelsendienste, Recht und Ordnung und schließlich Bürgerservice zuständig. Wo sind die noch größten Baustellen? Und wie erleben das die beiden Gelsenkirchen? Die Stadträte im XXL-Interview mit den WAZ-Redakteuren Gordon Wüllner-Adomako und Sinan Sat.
Frau Henze, Herr Nowack, Sie sind jetzt ein gutes Jahr im Verwaltungsvorstand. Wann steht der Umzug nach Gelsenkirchen endlich an?
Andrea Henze: Entscheidend ist nicht der Umzug nach Gelsenkirchen, sondern die inhaltliche Arbeit. Ich – und ich denke, da ist es bei Simon Nowack nicht anders – beginne um 7 Uhr und fahre teilweise um 21 Uhr zurück nach Bochum. Da ist der Zeitanteil, den wir in Gelsenkirchen verbringen, doch der überwiegende.
Simon Nowack: In der Tat: Wir bekommen schon sehr viel mit von der Stadt. Ich habe den Umzug von Witten nach Gelsenkirchen immer noch nicht ausgeschlossen. Aber im Mai 2022 ist unser zweites Kind geboren, wir haben Eigentum in Witten erworben. Insofern steht der Umzug nach Gelsenkirchen bei uns aktuell nicht auf der Familien-Agenda.
Mit anderen Worten: Die Stadtspitze muss nicht zwingend in der Stadt leben, um zu fühlen, was hier wichtig ist?
Andrea Henze: Manchmal ist ein Blick von außen gar nicht der verkehrteste.
Sie haben die Gelsenkirchener Verwaltung jetzt ein Jahr lang von innen miterlebt und mitgestaltet. Warum kommt die Stadt so schwer vom Fleck? Hat man in der Verwaltung den Ernst der Lage immer noch nicht begriffen?
Andrea Henze: An Erkenntnis fehlt es der Verwaltung sicher nicht, aber es gibt hier eben diese enorme Masse an Herausforderungen. Da fällt vieles natürlich schwerer als in anderen Städten, auch wenn man professionell und eng zusammenarbeitet. Deswegen wirkt es von außen vielleicht so, als würde Gelsenkirchen langsamer vorankommen als andere Städte. Aber wenn man eine Stadt entwickeln will, dann dauert es acht, zehn Jahre, bis man überhaupt erste Ergebnisse sehen kann. Das geht nicht von heute auf morgen. Und nicht in unserem ersten Jahr.
Frau Henze, insbesondere Sie mussten sich bislang vor allem als Krisenmanagerin zeigen. Von den Ukraine-Flüchtlingen über die sozialen Folgen der Energiekrise bis Corona: All diese Themenbereiche fallen in ihren Verantwortungsbereich. Welche Themen sind zu kurz gekommen?
Andrea Henze: Ich hätte gerne einen stärkeren Fokus auf die Pflege gelegt und mich mit Fragen beschäftigt wie: Wie kann man Pflegekräfte aus dem Ausland nach Gelsenkirchen holen? Wie kann man dem Fachkräftemangel ansonsten begegnen? 2023 wollen wir außerdem das Thema Armut viel intensiver angehen – von der Kinder- bis zur Altersarmut. Diese beiden Themenkomplexe hätte ich gerne viel mehr bespielt.
Was wird für armutsbetroffene Menschen in Gelsenkirchen also 2023 konkret besser?
Andrea Henze: Beim Thema Altersarmut etwa haben wir drei Handlungsbereiche herausgearbeitet: Wohnen, Einsamkeit sowie Gesundheit. Nehmen Sie beispielsweise das Thema Wohnen. Was wir 2023 nach vorne bringen wollen, das sind Gespräche mit den Wohnungsunternehmen, um mehr Angebote für armutsbetroffene Senioren zu schaffen. Wir wollen in den nächsten Jahren im Rahmen unserer Zukunftspartnerschaft mit dem Land viele Problemimmobilien abreißen – um dann auch Wohnungsraum für diesen Personenkreis zu schaffen. Aber ich war auch schon mal in der Wirtschaftsförderung tätig und kenne die Herausforderungen: Es ist schwierig, Unternehmen von Investitionen zu überzeugen, wenn es um Wohnungsangebote mit geringem Mietertrag geht.
Wirtschaftsförderung ist ein gutes Stichwort, Herr Nowack. Man könnte gar sagen, ein Reizwort.
Simon Nowack: Ist es das?!
In der Stadtgesellschaft hört man sehr oft die Kritik, dass die Wirtschaftsförderung wenig ermögliche, aber viel verhindere. Es heißt, dass allzu oft nur gesagt werde, aus welchen Gründen manche Vorhaben nicht realisiert werden können, anstatt mit potenziellen Investoren nach einer gemeinsamen Lösung zu suchen.
Simon Nowack: Diese Kritik würde ich nicht alleine auf die Wirtschaftsförderung fokussieren. Aber in der Tat gibt es an vielen Stellen Sachzwänge, die Hürden aufbauen. Und in der Tat können wir als Lotsen noch besser sein. Deswegen bin ich sehr froh, dass wir im vergangenen Jahr die Neuaufstellung der Wirtschaftsförderung beschließen konnten. Damit können wir dieses Jahr erheblich in zusätzliches Personal investieren. 2023 wird es neun neue Stelle geben, in einer ganz neuen Team-Struktur. Und dazu gehören eben auch zusätzliche Verwaltungslotsen, die die Service-Qualität für Unternehmen verbessern sollen.
Können Sie denjenigen, die hier investieren wollen, schon sagen: Ab wann wird es einfacher, in Gelsenkirchen Fuß zu fassen?
Simon Nowack: Das Personal am Ende auch zu finden, ist mit Blick auf den Fachkräftemangel natürlich schwierig. Wir hoffen aber, dass es uns gelingt, im ersten halben Jahr 2023 einen neuen Referatsleiter zu finden und dass wir bis spätestens Ende des Jahres alle neun Stellen besetzt bekommen. Dabei sind nicht nur die besagten Lotsen, sondern auch Stellen, die Gründungen und Startups mehr voranbringen sowie den Einzelhandel mehr unterstützen sollen. Auch für die Gastronomie soll es künftig einen festen Ansprechpartner in der Wirtschaftsförderung geben. Wir versuchen also die Service-Leistung zu verbessern und uns neue Themenfelder zu erschließen.
Sie haben in den vergangenen Monaten sicherlich viele Gespräche mit Unternehmen in Gelsenkirchen geführt. Wo drückt der Schuh am meisten?
Simon Nowack: Sicherlich beim Thema Fachkräfte. Aber auch beim Thema Energie. Ich bin stolz darauf, dass wir in einem echten Kraftakt gemeinsam mit der IHK, der ELE Verteilnetz GmbH und dem Arbeitgeberverband so schnell das bundesweit beachtete „Gelsenkirchener Modell“ entwickelt haben. Damit haben wir ein System entwickelt, mit dem es im Falle einer Energiemangellage zu möglichst wenig Anlageschäden – und damit langfristig auch zu einem möglichst geringen Arbeitsplatzverlust – kommen würde. Momentan entspannt sich die Lage aufgrund des milden Winters, aber wir wären gut vorbereitet gewesen.
Herr Nowack, Sie sind auch der Dezernent für den Bürgerservice in Gelsenkirchen. Vor einem Jahr haben Sie angekündigt, dass Sie die langen Wartezeiten im Straßenverkehrsamt und im Bürgeramt angehen wollen und die Digitalisierung dort verbessern wollen. Was ist besser geworden?
Simon Nowack: Die Kfz-Zulassungsstelle haben wir im Griff. Da sind die Wartezeiten mittlerweile kürzer. Im Bürgerservice dagegen hatten wir 2022 eine wirklich sehr kritische Situation, dort gab es zwischenzeitlich Ausfallquoten von 65 bis 70 Prozent. Die Corona-Pandemie ist heftig durch das Personal gefegt. Eine bessere Digitalisierung könnte das Personal auch schonen, aber da geht vieles nicht so schnell in der Umsetzung, wie man sich das wünscht. Deswegen hat die Bundesregierung auch die Frist dafür nach hinten gesetzt, alle Bürgerservice-Leistungen zu digitalisieren. Gesetzlich sind wir dazu aber aufgefordert. Jetzt haben wir noch mal 30 Millionen Euro an Fördergeldern vom Bund für das Projekt „Smart City“ bekommen. Das wird man auch bei der Digitalisierung im Bürgerservice spüren. Diese voranzubringen, wird die Kernaufgabe unserer neuen Abteilungsleitung.
Wie soll der Bürgerservice darüber hinaus besser werden?
Simon Nowack: Wir planen zwei Selbstbedienungs-Stationen im Hans-Sachs-Haus und im Rathaus Buer. Dort können dann schon mal selbstständig Passfotos aufgenommen oder Fingerabdrücke abgegeben werden. Das wird die Ausstellung von Dokumenten und die Arbeitsprozesse beschleunigen. Ich hoffe, dass wir schaffen, das in diesem Jahr umzusetzen. Außerdem wollen wir 2023 erstmalig den Bürgerbus durch Gelsenkirchen fahren lassen. Er soll an verschiedenen Stellen der Stadt Halt machen und ein zusätzliches Beratungsangebot anbieten.
Andrea Henze: Mit diesem Bus sollen auch Sozialleistungen in die Stadt „ausgefahren“ werden. Das heißt, man soll dort Informationen zu bestimmten Leistungen, aber auch Ausbildungsberufen oder Gesundheitsleistungen erhalten. Es wird dazu einen Kalender geben, auf dem steht, welche Informationen es wann und wo in der Stadt gibt. Damit verfolgen wir einen Quartiers-Ansatz. Mit dem Ansatz, alle Leistungen im Rathaus zu bündeln, holt man dagegen nicht mehr alle ab. Wir wollen mit dem Bürgerbus dorthin, wo die Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener sind.
Frau Henze, Sie sind damals ohne Parteibuch nach Gelsenkirchen gekommen, mittlerweile sind Sie der SPD beigetreten. Benötigt man in der Sozialdemokraten-Hochburg Gelsenkirchen am Ende doch die richtige Parteimitgliedschaft, um sich besser durchsetzen zu können, gerade in Ihrem Arbeitsfeld der Sozial- und Arbeitspolitik?
Andrea Henze: Nein, das braucht man sicher nicht. Ich hatte im WAZ-Interview kurz nach meinem Amtsantritt gesagt, dass ich der SPD zwar nahestehe, aber kein Mitglied bin. Tatsächlich folgten auf Basis des Artikels dann die ersten Gespräche. Da dachte ich mir: Vom Mindestlohn bis zum sozialen Arbeitsmarkt – die Themen der SPD spielen auch bei mir eine große Rolle. Deswegen bin ich dann doch beigetreten. Das Parteibuch spielt bei der Arbeit im Verwaltungsvorstand aber überhaupt keine Rolle.
Herr Nowack, Sie sind dagegen das einzige Mitglied im Verwaltungsvorstand, das CDU-Mitglied ist – und sind verantwortlich für das Lieblingsthema der Union in Gelsenkirchen: Sicherheit und Ordnung. Wurmt es Sie nicht, dass Sie bei dem Thema bisher noch keinen Fuß in die Tür bekommen?
Simon Nowack: Mich wurmen vor allem illegale Müllablagerungen in der Stadt, bei denen ich dann auch sofort zur GE-meldet-App greife. Und mich wurmt, dass wir uns zuletzt – nicht nur in Gelsenkirchen – mit diesem schlimmen Phänomen der Raubüberfälle auf Jugendliche auseinandersetzen mussten. Wir beseitigen die Probleme sicher nicht komplett mit unserer Arbeit, wir gehen mittlerweile aber viele Herausforderungen so an, wie man sich das vor einigen Jahren noch nicht vorstellen konnte.
Inwiefern?
Simon Nowack: Mittlerweile haben wir die regelmäßigen Objektprüfungen des Interventionsteams EU-Ost fest etabliert, bei denen wir, im wahrsten Sinne des Wortes, auf die „Politik der 1000 Nadelstiche“ setzen – sowohl gegenüber den Vermietern als auch gegenüber denjenigen, die dort Stromklau und Sozialleistungsmissbrauch betreiben oder dort einem illegalen Gewerbe nachgehen, von Schrottautos bis Prostitution. Auch beim Thema Müllablagerungen stellen wir für 2023 noch mal zusätzliches Geld zur Verfügung, um spezielle Gelsendienste-Einsatztrupps in die Problembezirke schicken zu können.
Aber funktioniert diese „Politik der 1000 Nadelstiche“ denn, wenn das Interventionsteam jeden Monat dieselben Verstöße ahnden muss?
Simon Nowack: Es sind dieselben Verstöße, aber nicht dieselben Personen. Bei der großen Anzahl an Schrottimmobilien und überschüssigen Wohnungen in der Stadt ist das nicht mit ein paar Kontrollen erledigt. Das ist ein Dauerlauf. Das Wichtigste ist, hier nicht nachzulassen.
Frau Henze, Gelsenkirchen hat über 2600 Ukraine-Flüchtlinge aufgenommen, obwohl die Stadt ohnehin große Integrationsherausforderungen hat. Wenn man sich ehrlich macht und sich beispielsweise anschaut, wie rappelvoll die Schulklassen hier sind: Ist die Stadt nicht vollkommen am Limit, was die Integrationsaufgaben angeht?
Andrea Henze: Wir haben, unabhängig von den Menschen aus der Ukraine, schon die für die Zuteilung von Flüchtlingen wichtige Wohnsitzauflage vor dem Ukraine-Krieg übererfüllt. Das resultiert aus der Flüchtlingskrise 2015/2016. Um die Integrationsleistungen auch wirklich leisten zu können, arbeiten wir auf verschiedenen politischen Ebenen und in den übergeordneten Gremien wie dem Städtetag dafür, dass wir die wichtigen Quoten zum Thema Zuteilung von Flüchtlingen und Integration zusammenlegen können. Da gibt es viele Gespräche, und auch das Land hat zumindest signalisiert, sich dem Thema zu nähern. Bis es zu einer neuen Gesetzgebung kommt, versuchen wir die Integrationsleistungen in Gelsenkirchen dezernatsübergreifend bestmöglich umzusetzen.
Seit den Silvester-Krawallen wird in Deutschland wieder viel über Integration debattiert. Herr Nowack, Ihr Bundesparteichef Friedrich Merz sorgte jüngst mit seiner Diagnose für Furore, dass das Problem mit manchen Migranten sei, dass sie sich schon in der Grundschule wie „kleine Paschas“ benehmen würden. In Gelsenkirchen leben sehr viele Menschen mit Migrationshintergrund. Sind solche Aussagen für diese Menschen nicht wie ein Schlag ins Gesicht?
Simon Nowack: Ich glaube, dass wir nicht weiterkommen, wenn wir Probleme nicht ansprechen oder sie verschweigen. Das führt zu Frustration. Und ich habe im vergangenen Jahr wahrgenommen, insbesondere auch in Gesprächen mit vielen Unternehmern mit Migrationshintergrund, dass bei ihnen der Frust genauso groß über diejenigen ist, die ganz offensichtlich unseren Staat und seine Institutionen ablehnen und sich nicht integrieren wollen. In Gelsenkirchen war es an Silvester ruhig, aber wir hatten an anderer Stelle ähnliche Probleme. Mit Blick auf die Situation am Heinrich-König-Platz haben wir mit einer Kombination von Sozialarbeit und repressiven Maßnahmen aber den Knoten durchschlagen. Der Einsatz dort hat gewirkt. Und das hat auch damit zu tun, dass die Diskussion zu dem Thema 2021 gewirkt hat und man sich ein Stück weit ehrlich gemacht hat, nicht zuletzt aufgrund der Bezirksbürgermeister, die sich der WAZ gegenüber mutig und klar zu den Integrationsproblemen in Gelsenkirchen geäußert hatten.
Andrea Henze: Ich glaube, dass sich vor einigen Jahren eine gewisse Mentalität in der Stadt verfestigt hat. Man wollte aus Sorge vor diesen Plätzen bei den Beliebtheitsrankings über bestimmte Problemlagen nicht sprechen. Wir kommen aber nicht daran vorbei, manche Probleme klar anzusprechen, um sie bestmöglich abarbeiten zu können. Wir sollten keine Angst haben, dass deshalb ein negativeres Bild von Gelsenkirchen entsteht.