Gelsenkirchen. Die Gelsenkirchener Stadtbevölkerung ist besonders anfällig für Altersarmut. Mit diesen drei Punkten will die Stadt jetzt entgegenwirken.
Wird aus der ärmsten Stadt Deutschlands die Hochburg der Altersarmut? Die Gelsenkirchener Stadtbevölkerung ist aufgrund zahlreicher Faktoren besonders gefährdet, im Rentenalter in Armut abzudriften. Das geht aus dem aktuellen „Sozialbericht Altersarmut“ hervor, den die Stadt jüngst veröffentlicht hat. „Ja, es besteht das Risiko, dass es unsere Stadt schwerer trifft als andere Städte“, sagt auch Sozialdezernentin Andrea Henze, die deshalb nun eine Strategie entwickeln will, um negative Folgen von Altersarmut abzumildern und das Armutsrisiko zu verringern.
Risikofaktoren sind dem Bericht zufolge hohe Quoten von Teilzeitbeschäftigung, geringe Einkommen und längere Unterbrechungen der Erwerbstätigkeit – Faktoren, die in Gelsenkirchen besonders häufig auftreten. Betroffen sind häufig Menschen mit geringer Bildung und Qualifikation oder auch Menschen mit Migrationshintergrund, also Gruppen, die in Gelsenkirchen im Vergleich zu anderen Städten ebenfalls besonders groß sind. Und: „Zukünftig wird die Inanspruchnahme von Grundsicherung im Alter aufgrund von brüchigen Erwerbsbiografien weiter zunehmen“, heißt es in dem Sozialbericht.
„Die Grundsicherungsquote wird deshalb weiter drastisch zunehmen“, betont auch Andrea Henze, die nun „gegensteuern“ will und dafür drei Handlungsfelder identifiziert hat. Hier soll „alles auf den Prüfstand“.
Handlungsfeld Gesundheit: So will Gelsenkirchen armutsgefährdete Menschen abholen
Da ist zum einen der Bereich der Gesundheit. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist in Gelsenkirchen deutlich geringer als im NRW-Durchschnitt (bei Männern 75,9 statt 78,3 Jahre; bei Frauen 80,6 statt 82,8 Jahre). Im Sozialbericht wird das nicht nur als Folge der hohen Armut bewertet; denn Menschen mit geringer Bildung und niedrigem Einkommen haben ein viel höheres Risiko, tödliche Krankheiten zu erleiden. Auch lassen die Ergebnisse schlussfolgern, dass „die Versorgungs- und Inanspruchnahmestrukturen weniger zielgerichtet erfolgen als im NRW Durchschnitt.“ Vereinfacht heißt das: Man muss die Menschen mehr abholen.
Denn: Wenn die Behandlungen erst zu spät beginnen, führen die Folgen von gesundheitlicher Beeinträchtigung häufiger zu Erwerbsminderung. Die dadurch entstehenden geringeren Rentenansprüche wiederum führen wieder vermehrt zu Altersarmut, wie auch der Sozialbericht feststellt. Andrea Henze, die auch Gesundheitsdezernentin ist, sieht nun im geplanten „Gesundheitskiosk“ (die WAZ berichtete) einen guten Weg, um die Menschen ganz niederschwellig aufzuklären.
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Auch spricht die Dezernentin von einer „Gesundheitskampagne“. Damit seien jedoch ganz sicher keine Info-Broschüren und Flyer gemeint. „Es geht um die persönliche Ansprache“, betont sie und nennt ein Beispiel: Wenn der Sozialleistungsantrag von jemandem bearbeitet wird, könnten Mitarbeiter auch Fragen zum Wohlbefinden des Gegenübers ins Gespräch miteinbeziehen, und dann auf entsprechende Gesundheitsangebote hinzuweisen. „Dass Gespräche so geführt werden, muss man schärfen.“
Handlungsfeld Einsamkeit und Teilhabe: „Keine Pfadabhängigkeit“
Zu einem Gesundheitsproblem werden kann auch fehlende Teilhabe und Einsamkeit, die bei armen Senioren ebenfalls häufiger auftritt. Zwar listet der Sozialbericht zahlreiche Projekte auf, welche Menschen im hohen Alter aus der Vereinsamung holen wollen – von Spaziergang-Gruppen über die „Projektwerkstatt 50plus“ bis zum Mehrgenerationenhaus und den lokalen ZWAR-Gruppen („Zwischen Arbeit und Ruhestand“). Allerdings werden sich die Bedarfe laut Henze verändern, wenn die vielen Babyboomer in Ruhestand gehen und immer mehr Menschen mit Migrationshintergrund das Rentenalter erreichen.
„Deswegen gilt es, alle Projekte, die wir haben, noch mal zu hinterfragen und zu schauen, ob wir auf dem richtigen Weg sind“, sagt Henze. Es dürfte keine „Pfadabhängigkeit“ geben.
Handlungsfeld Wohnen: Gelsenkirchen altersgerecht gestalten
Während die Stadt bei der direkten Arbeit mit den Menschen Projekte lenken kann, ist der Handlungsspielraum beim Thema Wohnen begrenzter. Fakt aber ist: Der landesweite Trend der Reduzierung von Sozialwohnungen setzt sich auch in Gelsenkirchen fort. Von 2017 bis 2021 hat sich der Bestand der Sozialwohnung um 1347 Wohnungen verringert. „Diese Entwicklung wird sich auch in den kommenden Jahren fortsetzen“, stellt der Sozialbericht fest. „Gleichzeitig sind die steigenden Wohnkosten vielfach Grund dafür, dass sich die Anzahl der armutsgefährdeten Älteren erhöht.“
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Statt einfach nur zu versuchen, das Wohnungsangebot für einkommensschwache Senioren zu erhöhen, wird in dem Papier jedoch auch darauf aufmerksam gemacht, „dass altersgerechtes Wohnen deutlich weiter zu fassen ist als lediglich einzelne Wohnungen.“ Es müssten auch altersgerechte Beratungsangebote sowie Hilfs- und Pflegeleistungen kleinräumig in den Wohnvierteln bereitstehen.
Damit Gelsenkirchen all das trotz seiner sehr begrenzten Ressourcen schaffen kann, steht für Henze die „kleinräumige Sozialplanung“ über allem. Man dürfe die Angebote nicht „mit der Gießkanne“ verteilen, sondern müsse ganz genau schauen, in welchem Viertel in Gelsenkirchen welches Angebot geschaffen werden muss und „wo es am meisten Wirkung entfaltet.“ Eine solche passgenaue Sozialplanung hinzubekommen, sei ihr vorrangiges Ziel, sagt Henze. „Dafür bin ich angetreten.“