Gelsenkirchen. Zu viel Selbstdarstellung, zu wenig Sachdebatte: Diese Fehlentwicklungen im Jahr 2022 sieht man in der Gelsenkirchener Lokalpolitik.
Im letzten Jahr noch wurde die Einführung des Livestreams, der mittlerweile zu jeder Ratssitzung in Gelsenkirchen online geschaltet wird, sowohl von SPD als auch von Grünen und PARTEI als einer der größten politischen Erfolge 2021 gefeiert. In diesem Jahr, wo die WAZ Gelsenkirchen die Fraktionen erneut nach den größten politischen Pleiten der vergangenen 12 Monate befragt hat, kommt das Rats-TV jedoch alles andere als gut weg. „Politik dreht sich zu sehr um sich selbst. Das haben wir mit dem Rats-Livestream weiter verstärkt“, meint CDU-Fraktionschef Sascha Kurth. „Statt für mehr Öffentlichkeit, sorgt er für mehr Selbstdarstellung und weniger Sachdebatte. Mehr Öffentlichkeit für die Kommunalpolitik gerne – wie es jetzt läuft, machen wir aber keine Werbung dafür.“
SPD Gelsenkirchen kritisiert Verhalten im Rat: „So eine Show leistet Zukunft der Stadt keinen Dienst“
Und auch die SPD scheint wenig erfreut damit zu sein, wie sich die gefilmten Sitzungen die Kommunalpolitik geprägt haben. „Wie die Bürgerinnen und Bürger seit diesem Jahr selbst im Livestream verfolgen können, liegt das Interesse bei einigen Stadtverordneten in erster Linie darin, Sitzungsverläufe künstlich in die Länge zu ziehen und populistisch Stimmungen, Hass und Hetze zu verbreiten“, sagt Axel Barton - und schießt damit augenscheinlich Richtung AfD.
Eine konstruktive und sachorientierte Arbeit stehe hier ebenso wenig im Fokus, wie eine inhaltliche Auseinandersetzung in der Sache. „In unseren Augen mag eine solche Show kurzfristig für Heiterkeit in den eigenen Reihen sorgen, der Zukunft unserer Stadt und der Verbesserung der Lebensumstände der Bürgerinnen und Bürger leistet dieses Verhalten jedoch keinen Dienst, macht Barton klar.
Und die AfD selbst? Die findet, dass die Immobilienbesitzer in Gelsenkirchen „in Sachen Grundsteuer allein gelassen wurden.“ Fraktionschef Jan Preuß macht darauf aufmerksam, dass – trotz Frist bis Ende Januar – bislang erst rund die Hälfte aller Grundsteuererklärungen in NRW abgegeben sind und davon sogar die Hälfte fehlerhaft ist. Dabei habe die AfD schon in der ersten Jahreshälfte 2022 Eingabeterminals in den Bürgercentern gefordert, bei denen, unterstützt durch städtische Mitarbeiter, die Grundsteuererklärung abgegeben werden kann – womit man nach Ansicht von Preuß zumindest die Situation in Gelsenkirchen hätte entschärfen können.
Grüne Gelsenkirchen zeigen sich selbstkritisch: Konnten andere nicht von mehr Queer-Politik überzeugen
Die Grünen zeigen sich – wie bereits im vergangenen Jahr – selbstkritisch. „Leider haben wir es 2022 nicht geschafft, die anderen Fraktionen von der Notwendigkeit queerpolitischer Schwerpunkte in der Kommunalpolitik zu überzeugen“, gesteht Co-Fraktionschefin Adrianna Gorczyk ein. „Sowohl unser Antrag zur gendersensiblen Verwaltungssprache als auch für mehr Sichtbarkeit der queeren Community im öffentlichen Raum, zum Beispiel in Form eines ,Regenbogen-Zebrastreifens’ sind gescheitert“, bedauert sie – und urteilt: Das Verwaltungshandeln stelle sich immerhin progressiver dar als die Position der meisten Fraktionen.“ Der Hintergrund: Die Stadt arbeitet einen Aktionsplan zum Thema geschlechtliche Vielfalt ab, mit 62 Punkten, die die Situation der LSBTQIA+-Community in Gelsenkirchen verbessern sollen.
Vom „Schloß Stolzenfelz“ in der Altstadt bis zum „Setzkasten“ in Buer: 2022 haben mehrere Läden in Gelsenkirchen geöffnet, die vom Innenstadt-Förderprogramm des Landes profitiert haben. Dabei wird die Ladenmiete zu einem großen Teil übernommen, um Leerstand mit kreativen Konzepten zu beseitigen.
Clownsnasen und Tiere: Das sagen die Ratsgruppen
Weniger als drei Ratsmitglieder im Gelsenkirchener Stadtrat haben die PARTEI, „Tierschutz hier!“ und AUF. Die Ratsgruppe der PARTEI-Satiriker nennt als eine ihrer größten Fehlleistungen 2022, nicht der gesamten AfD-Fraktion Clownsnasen verliehen zu haben. Währen der letzten Ratssitzung des Jahres überreichte der Ratsgruppen-Vorsitzende Marc Meinhardt eine solche Nase an AfD-Fraktionschef Jan Preuß.
„Leider ist es uns 2022 nicht gelungen, jedes Tier in Gelsenkirchen zu retten. Dafür werden wir weiterhin intensiv arbeiten“, nennt die Tierschutz-Ratsgruppe ihr verfehltes wie ambitioniertes Ziel.
„Baugrube statt Schwimmfreuden“: Die AUF hält den „vorzeitigen Abriss des Zentralbads“ für die größte Fehlleistung 2022. „Die Verwaltungsspitze ließ das Zentralbad abreißen und befeuerte einen peinlichen öffentlich ausgetragenen Streit mit Herne als Mitbewerber der Polizeihochschule“, urteilt AUF-Einzelmandatsträger Jan Specht.
Die Linke-Fraktion hat die Anfrage der WAZ nicht beantwortet.
Die FDP Gelsenkirchen, die für sich beansprucht, die Verwaltung dazu gedrängt zu haben, 800.000 Euro an Innenstadt-Fördergeldern nach Gelsenkirchen gebracht zu haben, sagt jedoch: „Mit der Verwendung der Gelder sind wir nicht immer einverstanden gewesen. Denn unserer Vorstellung nach - und diese Erkenntnis haben wir aus zahlreichen Gesprächen mit Einzelhändlern gewonnen - sollten vornehmlich Unternehmen unterstützt werden, deren Angebot es im Portfolio der Innenstadt noch nicht gibt. Hier müssen wir nachhaltiger werden, müssen häufiger nachfragen, konstruktiv kritisieren“, lässt auch Fraktionschefin Susanne Cichos etwas Selbstkritik zu.
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Auch Ali-Riza Akyol, Fraktionsgeschäftsführer der WIN-Fraktion, will künftig mehr Druck machen – und zwar beim Thema Kita-Plätze. „Das Thema haben wir vernachlässigt“, gibt er zu. Akyol macht darauf aufmerksam, dass Untersuchungen der Bertelsmann Stiftung jüngst gezeigt haben, dass von Armut betroffene Kinder seltener einen Kita-Platz bekommen. Akyol: „Hier werden wir genau hinschauen, was die Stadt macht und noch machen kann.“