Gelsenkirchen. Mitgliederrückgang, Personal- und Finanznot: Wie Katholiken und Protestanten in Gelsenkirchen neue Wege ausloten. Und trotzdem fröhlich bleiben.
Die Zukunft? Für die beiden großen Kirchen in Gelsenkirchen hat sie längst begonnen. Sich kleiner setzen: So lautet seit Jahren die unfrohe Botschaft, mit der sich Katholiken wie Protestanten fit machen für das Morgen. Dabei nötigt der Schrumpfungsprozess Pfarreien und Gemeinden, neue Wege auszuloten. Und Bedingungen für möglich zu halten, die heute noch undenkbar scheinen – etwa die Bezahlung von „Serviceleistungen“ wie Taufen oder Trauungen.
Wie die katholische Kirche in Gelsenkirchen in 30 oder 40 Jahren aussieht? „Ich gehe davon aus, dass unsere gesellschaftliche Autorität schwinden wird, ebenso die Zahl der Mitglieder und Gebäude sowie des hauptamtlichen Personals“, macht sich Stadtdechant Propst Markus Pottbäcker keine Illusionen. Ende 2020 etwa zählte Gelsenkirchen 77.312 Gläubige, 1970 waren es noch 167.113.
Stadtdechant: Zahl der Kirchenmitglieder in Gelsenkirchen wird weiter sinken
Die Gründe sind bekannt: Es sterben mehr Katholiken als neue durch die Taufe aufgenommen werden, hinzu kommt eine massive Austrittswelle „zum großen Teil bedingt durch den Skandal des sexuellen Missbrauchs und den Umgang damit.“ Gerade hat, bezogen auf die Gesamtbevölkerung, bundesweit die Zahl der Kirchenmitglieder die magische Grenze von 50 Prozent unterschritten, „in 30 Jahren werden es unter 20 Prozent sein“, so der Propst von St. Augustinus und St. Urbanus, Leiter der zwei größten Pfarreien Deutschlands.
Damit verbunden sind weniger Kirchensteuer-Zahlungen, wohingegen die Aufwendungen zum Unterhalt der vielen alten Gebäude steigen, in denen seit Jahren immer weniger Gläubige zum Gottesdienst zusammenkommen. Gemessen an der Zahl der Mitglieder, gehen nur noch fünf Prozent sonntags in die Messe.
Finanz- und Personalnot zwingt Pfarreien zu Kirchenschließungen und Fusionen
Dem trägt die Kirche vor Ort längst Rechnung. Seit 2007 wurden in Gelsenkirchen 18 Gotteshäuser aufgegeben. Trauer, Entsetzen und Wut sind die Folgen, teils verbunden mit einer Abkehr vom Gemeindeleben oder Austritten. Nicht jeder sei so mobil, weitere Anfahrtswege zur nächsten Kirche zu bewältigen. Und andere wollten es auch einfach nicht, da ihnen die Gebäude fremd seien. „Es gelingt uns leider nicht, alle mitzunehmen“, bedauert Pottbäcker im Bewusstsein, dass das „Schließungskonzert“ angesichts finanzieller Zwänge wahrscheinlich noch nicht beendet ist. [Zum Thema:Kirche macht Turnhalle Platz]
2030 werde die katholische Stadtkirche noch acht Gotteshäuser zählen. Gesetzt seien St. Augustinus in der Altstadt, St. Urbanus in Buer mit Herz-Jesu in Resse, St. Barbara in Erle sowie St. Michael in Hassel und St. Hippolytus in Horst. „Weiter Optionen werden gerade diskutiert.“ Auch weitere Fusionen der nun stadtweit drei Pfarreien sind wahrscheinlich – der Bischof selbst hatte die von St. Hippolytus und St. Urbanus angeregt.
Pottbäcker: Mehr Demokratie und Gleichberechtigung von Frauen hilft nicht wirklich
Und das hauptamtliche Personal? Dass immer weniger junge Männer Priester werden wollen, ist bekannt. Geweiht wurde in diesem Jahr im Bistum Essen, wie schon in den Vorjahren – einer. Ob es mehr wären, wenn der Zölibat abgeschafft würde und Frauen für das geistliche Amt zugelassen würden? „Anfangs wahrscheinlich schon. Aber ich denke nicht, dass es maßgeblich ist, ob ein Mann oder eine Frau vorne am Altar steht.“ Entweder die Menschen ließen sich von der frohen Botschaft anstecken – oder eben nicht. [Lesen Sie auch:Video soll zeigen, dass Kirchen AfD störten]
Auch eine demokratische Beteiligung der Gläubigen etwa bei der Priesterwahl, wie sie in der evangelischen Kirche praktiziert wird, hält Pottbäcker nicht für wirklich geeignet, um nur mehr Mitglieder zu gewinnen. „Schon jetzt nutzen nur zwei Prozent der Gläubigen die Möglichkeit, Kirchenvorstand und Pfarrgemeinderat zu wählen.“
Neue Finanzierungsmodelle nötig, wenn Kirchensteuer abgeschafft wird
Was die Finanzierung angeht, so ist der Stadtdechant sicher: Die Kirchensteuer werde in den nächsten Jahren abgeschafft. „Dann müssen wir neue Wege finden, so wie die Kirche in anderen Ländern auch.“
Welche Finanzierungsmodelle das sein könnten? Ein Sponsoring wie in Amerika sieht er durchaus kritisch, weil es die Unabhängigkeit der Kirchen beeinträchtigen könne. „Bislang brauche ich keinem Spender nach dem Mund zu predigen. Ich kann etwa Flüchtlingspolitik als unchristlich kritisieren, ohne Rücksicht nehmen zu müssen.“ Wenn aber die maßgebliche Förderung etwa eines neuen Kita-Gebäudes davon abhinge…?
Gelsenkirchener Propst: Serviceleistungen wie Taufen könnten künftig berechnet werden
Möglich hält er es auch, dass „Serviceleistungen“ wie Taufen oder Trauungen künftig berechnet werden, „vielleicht mit 50, 100 oder 200 Euro, wer weiß?“ Problematisch sei das freilich sehr wohl, da der Eindruck entstehen könnte, da würden „Sakramente verkauft“.
Also alles düster in der Zukunft? Pottbäcker schüttelt den Kopf. „Nein. Mit unserem sozialen Portfolio sind wir breit aufgestellt und in dieser Gesellschaft unverzichtbar, auch als Arbeitgeber von insgesamt rund 8000 Beschäftigten“, sagt er in Anspielung auf die St. Augustinus GmbH, die Caritas, das Sozialwerk St. Georg, die Kindergärten, die Jugendsozialarbeit (Förderkorb) und die Familienbildungsstätte Helene-Weber-Haus.
Gelsenkirchener Pfarreien setzen teils schon jetzt unterschiedliche Schwerpunkte
Nicht zuletzt orientieren sich immer mehr Pfarreien sozialräumlich, sprich: Sie fokussieren sich mit bestimmten Schwerpunkten nicht mehr nur auf „eingetragene“ Katholiken, sondern potenziell auf alle Menschen im Stadtteil. Beste Beispiele sind da Gleis X in der Neustadt und das jugendpastorale Philipp-Neri-Zentrum, die jungen Menschen lebenspraktische, aber auch spirituelle Orientierung geben wollen, oder die Unterstützung von Bedürftigen in St. Michael (Hassel), wo es eine Ausgabestelle der Tafel und den „Reparatur-Michel“ gibt.
Ansonsten will er sich nicht zu sehr auf die Zahl der Kirchenmitglieder fokussieren. „Zahlen sagen nichts über das Bedürfnis der Menschen nach Spiritualität aus.“ Wenn es der Kirche gelänge, „endlich die furchtbaren Verbrechen des sexuellen Missbrauchs aufzuarbeiten und zu einem entspannteren Verhältnis zur Sexualität zu finden, wenn wir zeigen, wie schön es ist, Christ zu sein“, dann sei ihm um die Zukunft der Pfarreien in Gelsenkirchen nicht bange.
Gelsenkirchener Superintendent: Mitgliederschwund ist nur zum Teil beeinflussbar
Rückläufige Gemeindeglieder-Zahlen, zu wenig hauptamtliches Personal, zu viele Gebäude, sinkende Einnahmen und gesellschaftliche Resonanz: Vor diesen Herausforderungen steht auch der Evangelische Kirchenkreis Gelsenkirchen und Wattenscheid. 1974 zählte er 200.000 Gläubige, jetzt sind es nur noch 76.000.
„Fakt ist, dass wir weniger werden“, redet Superintendent Heiner Montanus ebenfalls Klartext. Ursache sei ein „bunter Mix“: Die Diskrepanz zwischen Todesfällen und Taufen ist riesig, hinzu kommen die Austritte, nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern auch infolge des sexuellen Missbrauchs in der Kirche. Besonders frustrierend – oder, je nach Perspektive, entlastend: „Nach einer Studie ist nur ein Viertel dieser Entwicklung durch die Kirche beeinflussbar.“
Montanus: Tätige Nächstenliebe ist Chance, Interesse an Kirche zu wecken
Wie genau? „Eine Synode hat ja 2019 beschlossen, dass Gottesdienste, Jugendarbeit, Kitas, Kirchenmusik und Seelsorge in Gemeinden und Krankenhäusern unsere unverzichtbaren Aufgaben für die Zukunft sind“, so Montanus. „In all diesen Bereichen begegneten die Menschen uns und unserem Glauben auch durch tätige Nächstenliebe, etwa indem wir bedürftigen Kita-Kindern ein Frühstück servieren und Kleidung anbieten.“ Da werde die Botschaft Jesu im Alltag sichtbar, genauso wie bei den Beratungs- und Hilfsangeboten des Diakoniewerks. „Das kann auch eine Chance sein, Interesse an Kirche zu wecken.“
Auch mehr Transparenz und eine bessere Informationspolitik seien unabdingbar, „um mehr Menschen mitzunehmen, wenn es etwa um Standortaufgaben geht.“ Die Kommunikation Ende 2021 in Bezug auf das geplante Aus der Kirchen und Jugendzentren in Rotthausen, Schalke und Neustadt etwa, „hätte besser laufen können“, so Montanus.
Presbyterien der Gelsenkirchener Gemeinden sollen verstärkt gesamtstädtisch denken
Um solch unbeliebte Entscheidungen kämen die Gemeinden vor Ort aber auch künftig nicht herum. „Wir haben ein Drittel der Gemeindeglieder verloren, jedoch nicht im gleichen Maß Gebäude aufgegeben. Man muss sich eben fragen, ob es Sinn macht, mit zehn Gläubigen Gottesdienst zu feiern und dafür entsprechende Personalressourcen vorzuhalten.“
Entscheidungsgremium ist für jede Gemeinde jeweils deren gewähltes Presbyterium, das den Gläubigen auch erklären müsse, „wenn es die Gebäudeplanung an die Zukunft anpasst.“ Dabei gesamtstädtisch zu denken, sei eine große Herausforderung. Montanus aber ist sicher: Ohne eine Schwerpunktbildung wird’s nicht funktionieren. [Zum Thema:Zwei Gemeinden wollen nun doch fusionieren]
Montanus: Gemeinden werden Spezialitätengeschäfte sein, nicht mehr Kaufhäuser
„Jede Gemeinde wird künftig Aufgaben ausbauen, dafür aber andere loslassen müssen. Schließlich hat jedes Team besondere Stärken, anderes kann es dafür nicht so gut. Die evangelische Kirche in der Stadt wird in 30 oder 40 Jahren eher einer Einkaufsstraße mit Spezialitätengeschäften gleichen, nicht einer Ansammlung von Kaufhäusern, wo es alles gibt.“
Dafür müssten die Gläubigen freilich mobiler sein als derzeit. Wer künftig etwa Kirchenmusik auf einem hohen Niveau erleben wolle, müsse dann womöglich in eine andere Kirche gehen als Eltern mit kleinen Kindern, die einen besonders auf sie abgestimmten Familiengottesdienst schätzten. Auch Konfirmandenunterricht könne man auf drei, vier Standorte konzentrieren.
Gelsenkirchener Superintendent: Neue, niederschwellige Formate nötig
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Ob die Gemeindeglieder da mitziehen? Montanus ist optimistisch. „Schon jetzt suchen viele die Kirchen nach dem Pfarrer oder der Pfarrerin aus, der oder die dort den Gottesdienst hält. Da spielen persönliche Vorlieben durchaus eine Rolle.“
Nötig seien zudem neue, niederschwelligere Formate. Der traditionelle Sonntags-Gottesdienst, er schrecke womöglich weniger evangelisch sozialisierte Menschen ab, „weil sie mit den Gepflogenheiten dort nicht so vertraut sind und Angst haben, unter den Augen anderer etwas falsch zu machen.“ Raus aus den Kirchen, rein in den Stadtteil, in die Parks: Das könne eine Lösung sein. Open-Air-Taufen etwa mit vielen Babys oder der Ostergarten der Trinitatis-Kirchengemeinde Buer im Coronajahr 2021.
Interprofessionelle Pastoralteams: Eine Antwort auf Mangel an Pfarrerinnen und Pfarrern
Eine Antwort auf den Mangel an hauptamtlichen Mitarbeitenden könnten schließlich Interprofessionelle Pastoralteams wie in der Emmaus-Gemeinde sein: Neben dem Pfarrteam werden auch weitere Personen, in diesem Fall Diakonin Nicole Stach, mit pastoralen Aufgaben beauftragt. Pfarrerinnen, Pfarrer und Diakonin teilen sich zukünftig die gemeindlichen Aufgaben in der Seelsorge, in Gottesdienst und Gemeindearbeit.
Montanus größte Befürchtung für die Zukunft? „Dass wir so weitermachen wie bisher, als hätten wir den Schuss nicht gehört; dass wir uns mit der sinkenden gesellschaftlichen Relevanz abfinden.“ Und sein größter Wunsch? „Dass wir eine fröhliche Kirche sind, die mit Freude von der Botschaft Gottes erzählt. Egal, wie viele wir am Ende sind.“
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