Gelsenkirchen. . Vier Gelsenkirchener Gymnasialleiter sprechen im WAZ-Interview über die Situation an ihren Schulen und was sie sich von der Politik wünschen.
Gymnasien sind nach den Gesamtschulen in Gelsenkirchen die zweitbeliebteste Schulform. Nachdem die Schulzeitverkürzung zurückgenommen wurde, könnte die Anmeldezahl gar noch steigen. Der Sprecher der Gymnasialleitungen, Konrad Fulst vom Leibniz-Gymnasium, Thomas Henrichs, Leiter am Max-Planck-Gymnasium, Frank Kaupert, Leiter des Gauss-Gymnasiums, und sein Kollege Rolf Möller vom Ricarda-Huch-Gymnasium sprachen mit der WAZ über ihre Situation, ihre Schülerschaft, die drängendsten Probleme und ihre Wünsche an Stadt, Land und Bund.
Rückkehr zu G9:„Das Problem bei der Rückkehr zum Abitur nach neun Jahren ist die zeitliche Taktung. Erst 2019 können wir konkret starten, ist das Land soweit mit den Ausführungsbestimmungen. Aber dann sollen wir die Fünftklässler vom August 2018 schon in G9 überführen!“ klagt Thomas Henrichs. „Und es wird keine Rückkehr zum alten G9 geben. Richtlinien haben sich verändert, die Berufsorientierung ist dazu gekommen, Lehrpläne müssen neu erstellt werden“, ergänzt Konrad Fulst. Frank Kaupert macht sich Gedanken, ob das Land die notwendige Versorgung mit Lehrern finanzieren wird.
Bessere Chancen bei der Stellenbesetzung
Lehrerbesetzung: An Gymnasien sind so gut wie alle Stellen besetzt. Mangelware sind Physik- und Mathelehrer und selbst Deutschlehrer werden für den Sprachunterricht für Zuwanderer wieder gesucht. „Aber es gibt Probleme, Vertretungslehrer zu finden. Wir haben ein junges Kollegium, da sind viele in Mutterschutz oder Elternzeit“, gießt Konrad Fulst Wasser in den Wein. Und ob die für das kommende Schuljahr genehmigten Stellen besetzt werden können, sei fraglich, fürchtet Rolf Möller. Dass Gymnasien fast ausschließlich Lehrkräfte mit Sekundarstufe-II-Befähigung einstellen dürfen – die mehr verdienen als Sek.-I-Lehrer – , findet das Quartett nur folgerichtig. „Alle sollen überall einsetzbar sein. Und wir bemühen uns um Kontinuität in der Schullaufbahn“, erklärt Fulst. Zur Erinnerung: Die Gesamtschulleiter wünschten sich im WAZ-Gespräch, ebenfalls unbegrenzt Sek-II-Lehrer einstellen zu dürfen, um bessere Chancen bei der Lehrerbesetzung zu haben. Dafür müsste das Land erst eine Grundlage schaffen.
Schulsystem: „Für Eltern ist das oft schwierig einschätzbar, welche Schulform die richtige ist. Vor allem bei der Sekundarschule zögern viele,“ hat Frank Kaupert festgestellt. Und viele verstünden gar nicht den grundlegenden Unterschied zwischen integrierten und gegliederten Systemen. „Mancher meldet sein Kind am Gymnasium an, auch entgegen der Empfehlung der Grundschule. Und denkt, wenn es nicht funktioniert, könnte das Kind zur Gesamtschule wechseln. Das ist aber nicht vorgesehen. Realschulen müssen Kinder vom Gymnasium aufnehmen, Gesamtschulen nicht“, stellt Konrad Fulst klar.
Wechsel nach der Erprobungsstufe
Abschulung: Das Wort sei unpassend, befinden die Schulleiter. Dass viele Kinder nach der Probestufe das Gymnasium wieder verlassen, sei in den seltensten Fällen, weil sie es müssten. Die Entscheidung liege immer bei den Eltern. Ein Muss sei es nur bei zu vielen Klassenwiederholungen, betont Fulst. „Es sind oft Kinder ohne Gymnasialempfehlung, die die Schule nach der Erprobungsstufe wechseln müssen“, so Thomas Henrichs. Leider bestünden viele Eltern auf einen Gymnasialplatz für ihr Kind, auch wenn es dafür nicht geeignet erscheine.
Eltern erwarten immer mehr von der Schule
„Ablehnen dürfen wir nur, wenn alle Plätze belegt sind. Nicht wegen einer anderslautenden Empfehlung“, so Fulst, der eigentlich richtig findet, dass die Entscheidung bei den Eltern liegt. „Wir müssten froh sein, dass man Gymnasien soviel zutraut, dass so viele zu uns wollen. Der Trend geht dahin, dass Eltern immer mehr von der Schule erwarten. Also hat die Schule immer mehr Verantwortung für den schulischen Erfolg.“
Auch Rolf Möller betont: „Wir nehmen uns sehr viel Zeit bei Beratungen. Aber es ist schwierig, Eltern zu überzeugen, ihren Wunsch noch einmal zu überdenken.“ Frank Kaupert setzt auf mehr Zusammenarbeit mit den Grundschulen: „So lernt man einander früher kennen, kann einander besser einschätzen, Übergänge weicher machen.“
Skepsis bei längerer Grundschulzeit
Längere Grundschulzeit: „Ich bin ein Freund von längerer Grundschulzeit. Die Kinder haben dann mehr Zeit, sich zu entwickeln“, bekennt Frank Kaupert. Thomas Henrichs glaubt nicht an nennenswerte Effekte dadurch und verweist auf die ohnehin große Durchlässigkeit des Systems. Konrad Fulst warnt vor sehr langwierigen Veränderungen schon allein bei den Grundschulgebäuden, die das erfordern würde. Zumal man Kindern, die nach der vierten Klasse am Gymnasium schon richtig durchstarten, damit nicht gerecht würde. Auch Rolf Möller ist eher dagegen. „Es gibt Grundschulen gerade hier im Süden, da haben Kinder mit Talent aber ohne Eltern, die sie fördern können, weniger Chancen, ihre Talente zu entwickeln. In diesem System würden sie ja dann noch länger bleiben. Wir als Ganztagsgymnasium versuchen, diese Talente zu fördern, mit besonderen Angeboten auch am Nachmittag. Sofort, ab Klasse fünf.“ Überhaupt: Mehr Lehrer und Fördermöglichkeiten gerade in den unteren Klassen, das wünschen sich alle in der Runde. „Wir Lehrer haben heute viel mehr Aufgaben als früher, leisten viel Erziehungsarbeit, auch an den Gymnasien. Dafür bräuchten wir Entlastung“, fordert Fulst.
Das einheitliche Abitur ist strittig
Einheitliches Abitur: „Es ist nicht gut, dass es für Schüler und Lehrer ein Problem ist, das Bundesland zu wechseln, weil der Schulstoff so anders ist. Der Schritt Richtung einheitliches Abitur ist gut, aber es ist nicht ad hoc umsetzbar,“ meint Konrad Fulst. „Die schriftlichen Zensuren sind ja nur Teil der Note. Die mündlichen Aufgaben stellt die Schule. Echte Gleichheit lässt sich gar nicht herstellen,“ meint Rolf Möller. Auch Thomas Henrichs bezweifelt den Sinn eines Einheitsabiturs und die Möglichkeit der Vergleichbarkeit: „In diesem Jahr im Matheabitur haben alle geklagt über zu umfangreiche Aufgaben. Ich kann die Mathenoten 2018 also nicht mit denen von 2017 vergleichen.“ Frank Kaupert hingegen wünscht sich klar ein einheitliches Abitur. „Der Föderalismus im Bildungsbereich behindert die Durchlässigkeit.“
Digitalisierung: „Bei der Digitalisierung weiß man gar nicht so genau, wie das gefüllt werden soll. Der Schwerpunkt ist gesetzt, die Ausstattung läuft in Gelsenkirchen sehr gut, aber die inhaltliche Fortbildung fehlt,“ mahnt Frank Kaupert. „Die technische Ausbildung läuft, die inhaltliche Anbindung fehlt. Aber hier ist die Fortbildung Landessache,“ bestätigt Konrad Fulst.
Die größten Wünsche der Schulleiter
Die größten Baustellen: „Wir haben viele Baustellen, aber wir arbeiten keine richtig ab. Flüchtlingskinder, Inklusion, Berufsorientierung – man kommt nie ans Ende, sieht nie Licht am Ende des Tunnels. Da kann Gelsenkirchen nichts dafür, aber es ist einfach zuviel,“ beklagt Thomas Henrichs. Konrad Fulst verweist auf eine starke Unterbesetzung in der Verwaltung. „Lehrer müssen Namenslisten schreiben, Fahrpläne erstellen, das geht von Unterrichtszeit ab.“
Die größten Wünsche: „In der Turnhalle am Wildenbruchplatz, die wir uns mit dem Gauß teilen, ist bei heißem Wetter kein Unterricht möglich. Man kann nicht lüften,“ klagt Rolf Möller. „Und bei Regen stehen überall Eimer, um das Wasser aufzufangen. Wir haben schon angefragt, ob man beim Neubau der Sekundarschule die Turnhalle nicht so groß bauen kann, dass wir die mitnutzen können,“ ergänzt Frank Kaupert.
Über die Stadt könne man nicht klagen, im Gegenteil. Aber vom Land wünsche man sich eine langfristigere Schulentwicklungspolitik, eine realistischere Planung. Frank Kaupert spricht von einer „Vier-Jahres-Taktung in der Bildungspolitik“.
Ein weiterer Wunsch: mehr sozialpädagogische Unterstützung vom Land. Auch für Gymnasien. „Viele glauben, bei uns sei heile Welt. Das ist aber nicht mehr so,“ klagt Thomas Henrichs. „Unsere Lehrer wünschen sich mehr Zeit, um den Unterricht gut vorzubereiten. Wenn wir individueller Förderung gerecht werden möchten und unseren Ansprüchen, brauchen wir mehr Unterstützung. Viele Kollegen sind unzufrieden, wenn sie ihre Arbeit nicht so gut machen können, wie sie es möchten.“