Essen. Blick zurück nach vorn: Im Abriss des alten und Neubau des neuen Rathauses zeigt sich wie unterm Brennglas der Hang der 1960er, auch baulich nach Höherem zu streben. Man glaubte ans Wachstum – überall.
Wenn es denn eine Hitliste aller Verfehlungen gäbe, die sich Essens Politik und Verwaltung je geleistet haben – die Sache mit dem Rathaus läge vermutlich mit Abstand auf Platz 1.
Denn dass man den nach dem Krieg mühsam aufgebauten Wilhelminischen Bau gegenüber der Marktkirche einst für ein schnödes (Wertheim-)Kaufhaus opferte, eine Immobilie, die in ihrer Schmucklosigkeit längst auch wieder Geschichte ist, darüber schüttelte im Nachhinein selbst die örtliche Politik und Prominenz den Kopf.
"Rathausboom" der 60er und 70er
Wie viel mehr die „kleinen“ Bürger, von denen die meisten, so scheint es, mit dem in den 1960ern projektierten und eineinhalb Jahrzehnte später gebauten 22-Etagen-Koloss am Porscheplatz bis heute nicht ihren Frieden gemacht haben. Zu viel Großmannssucht.
Tröstet es jemanden, dass Essen sich damals in „guter“ Gesellschaft befand? Sich von den alten Bauten zu verabschieden und dem neuen, „demokratischen“ Rathaustyp Wolfsburg zu imitieren – mit Hochhaus für die Verwaltung und davon getrenntem Ratstrakt – das war fast Standard im „Rathaus-Boom“ der 1960er und 1970er Jahre, wie Till Schraven in seinem lesenswerten Rathaus-Schmöker „(Sozial-)Demokratie als Bauherr“ beschreibt.
Und er bricht eine Lanze für die Stadtvertreter von einst, die den neuen Aufbruch nicht zuletzt als Zeichen für ein wiedererstarktes Selbstbewusstsein ansahen: „Eine Stadt, die auf ein würdevolles Rathaus verzichtete, setzte sich dem Verdacht aus, sich nichts wert zu sein.“
Ein wenig an den Wolken kratzen
So ähnlich formulierte es auch die Stadt in ihrem vom damaligen Beigeordneten Heinrich Spies angeregten Buch „Essen – Soziale Großstadt von morgen“, mit dem man die modernen Zeiten regelrecht herbeibeschwor, eine gehörige Portion Pathos inklusive: „Einer Stadt soll für ihre Bewohner nicht nur Zwecke erfüllen, sondern ihrem Leben auch einen Sinn geben“, stand da. Die neue Planung sei dadurch gekennzeichnet, dass „hier wieder in großen städtebaulichen Zusammenhängen gedacht und gehandelt wird“, und wenn die Pläne erst einmal Stadtbild geworden seien, „wird man erkennen, dass Essen auch in seinem Zentrum einen Ausdruck seines Wesens und seines Charakters gefunden hat“.
Es war die Zeit, als man vielerorts im Stadtbild ein wenig an den Wolken kratzte: Das 80 Meter hohe alte Rheinstahl-Hochhaus (heute: Thyssen-Krupp) machte im Mai 1961 den Anfang, gefolgt vom ersten der mittlerweile drei RWE-Hochhäuser, schräg gegenüber an der Kruppstraße. Hoch hinaus ging’s auch bei der Deutschen Bahn am Hauptbahnhof und beim Haus der evangelischen Kirche, beim Verwaltungsturm der Versicherungsgesellschaft Vereinigte Leben am Limbecker Platz (heute GFKL) und am Postscheckamt am Hauptbahnhof. Geplant, aber nie verwirklicht: ein Hochhaus des Karstadt-Konzerns, ebenfalls am Limbecker Platz.
"Eine gesunde Wechselbeziehung"
Die Zeichen standen halt auf Wachstum in der Senkrechten, mitunter auch beim Wohnen: In Holsterhausen, so triumphiert die Stadt, habe man in einem zwölfgeschossigen Hochhaus volle 100 Ein- und 84 Zwei-Raum-Wohnungen unterbringen können und überhaupt: „Kein anderer Teil-Wiederaufbau in Essen hatte ähnliche Ausmaße“ wie in dem Stadtteil südlich des Ruhrschnellwegs: Auf 105 Hektar Land entstanden für 80 Millionen D-Mark mehr als 8.300 Wohnungen neu, weitere 540 wurden wiederhergestellt. Mal gab es Mehrfamilienhäuser, mal Wohnblocks, auch Punkthäuser und Eigenheime mit Garten: Man wollte Gleichförmigkeit verhindern und dem selbstgesteckten Motto gerecht werden: „Essen soll von Jahr zu Jahr wohnlicher werden.“
Heute würde man vermutlich manches anders bauen, Wohnquartiere wie Verwaltungsbauten, aber so geht es immer. Auch die Altvorderen sahen sich als Reparateure eines (hier und da allzu) schnellen Wiederaufbaus nach dem Krieg und damit die Zeit gekommen, „die Stadtzone zu ordnen und aus ihrem zufälligen Zusammenwachsen zu lösen.“
Starke Vorstädte
Es gab darum nicht nur in der Kernstadt große Pläne, sondern auch in den Stadtteilen: Rüttenscheid, Borbeck, Werden – und mit dem Drang zur Moderne wurde so neben mancher Nachkriegs-Piefigkeit angelegentlich auch die Heimatverbundenheit zur eigenen Stadt entsorgt.
Essen aus der Luft
Das war umso bitterer, weil der Aufbau-Generation durchaus klar war, dass Essen „von seinem Ursprung her eine Art Satellitenstadt“ darstellt, eine binnen 60 Jahren mit starken „Vorstädten“ aus dem Umland zusammengeklaubte Großstadt, in der man aus Frintrop, Karnap oder Kupferdreh noch heute zum Klamotten-Einkauf „in die Stadt“ fährt.
„Eine gesunde Wechselbeziehung“ zwischen dem Stadtkern und den Stadtteilen war das Ziel, und diesen Satz könnte man auch 50 Jahre später unterschreiben – wie auch vermutlich den folgenden: „Für die Aufschließung neuer Wohngebiete bieten sich noch beträchtliche Möglichkeiten – wobei aber natürlich immer bedacht werden muss, dass jede solcher Maßnahmen einen Teilverzicht auf Grünflächen mit sich bringt“. Von fern tönt da der Klang der Grünen Harfe übers Land.
