Essen. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten wird ein neuer Chef für die Evag gesucht. Für die Essener Verkehrs AG war 2012 ein schwarzes Jahr. Bus und Bahn sind derart chronisch unterfinanziert, dass man froh sein müsse, wenn das derzeitige Niveau noch gehalten werden kann.
Erst hast du kein Glück, dann kommt das Pech dazu – der alte Fußballerspruch passt dieser Tage eigentlich wunderbar auf die städtische Tochtergesellschaft, die am liebsten Essen bewegt: die Essener Verkehrs AG. Vor wenigen Tagen hat ihr Vorstandsvorsitzender Horst Zierold angekündigt, aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig zurückzutreten. Nun beginnt die Suche nach einem Nachfolger. Klar ist schon jetzt: Der neue Mann übernimmt die Evag in schwierigen Zeiten.
Seit acht Jahren führt Horst Zierold, der zugleich auch Geschäftsführer der Via Verkehrsgesellschaft und der Essener Versorgungs- und Verkehrsgesellschaft (EVV) ist, die Evag mit Geschick, Beharrlichkeit und Augenmaß, wie ihm Nahverkehrs-Kollegen, Aufsichtsratsmitglieder und seine Verhandlungspartner im Rathaus bescheinigen, trotz aller wirtschaftlichen und finanziellen Probleme. Eigentlich wollte er bis Ende März 2014 bleiben, wollte vor allem die Via als gemeinsames Verkehrsunternehmen für Essen, Mülheim und Duisburg auf sichere Gleise stellen. Eine Gesellschaft – das könnte helfen, rund 13,5 Millionen Euro einzusparen. Nach den Verwerfungen bei den Duisburger Stadtwerken fürchten nun manche Beobachter, dass mit Zierolds Abschied der Prozess weiter ins Stocken gerät.
Freie Fahrt für Senioren
Und dann kommt das Pech dazu – die Unfallserie der Evag. Im Juni krachen an der Hollestraße drei Bahnen zusammen, 34 Menschen werden verletzt, sechs schwer. Im September kollidieren zwei Bahnen in Borbeck-Mitte, vor fast zwei Wochen zwei weitere an der Haltestelle „Cronenberg“. Das Jahr 2012 ist für die Evag ein schwarzes: Eine U 17 wird an der Margarethenhöhe von einem Radlader aufgeschlitzt, bei einer anderen Stadtbahn muss gelöscht werden, ebenso das Dach bei einer Bahn der 105. Insgesamt belaufen sich die Fahrzeugschäden auf mehr als eine Million Euro. Allein die drei Kollisionen kosten gut 600.000 Euro – Geld, das keine Versicherung zahlt, das irgendwie aus dem klammen Evag-Haushalt herausgeholt werden muss.
Der Nahverkehr ist chronisch unterfinanziert
Das ist das Kernproblem des öffentlichen Personennahverkehrs, nicht nur in Essen: Bus und Bahn sind derart chronisch unterfinanziert, „dass wir eigentlich froh sein dürfen, wenn wir das derzeitige Niveau überhaupt halten können“, sagt selbst Wolfgang Weber, als Evag-Aufsichtsratsvorsitzender, als Via-Aufsichtsrat und als SPD-Ratsherr bestens mit der Materie vertraut. Es ist das Dilemma mit einem schwindsüchtigen städtischen Haushalt, an dem alles zwischen Karnap und Kettwig leidet, dessen Decke längst zu knapp und zu dünn geworden ist.
Es ist aber auch das Dilemma, dass Bund und Land weniger zahlen wollen für den ÖPNV: In den 1970er Jahren wurden die Städte mit üppigen Fördertöpfen geradezu gedrängt, sich eine U-Bahn zu bauen, sich am Stadtbahn-System für das ganze Revier zu beteiligen. Als das Geld erschöpft war, blieb in den meisten Städten ein Torso, der sich zunehmend zur finanziellen Zeitbombe entwickelt: Allein für die Evag werden die Modernisierungskosten für Bauwerke, Betriebstechnik und Fuhrpark auf weit mehr als 300 Millionen taxiert. Und selbst in dieser Zahl sind nicht einmal alle notwendigen Investitionen eingerechnet: Spätestens 2025 muss Ersatz her für die 52 Stadtbahnwagen, bei einem Fahrzeug-Preis von locker um die vier Millionen Euro.
Absurde finanzielle ÖPNV-Ausstattung
Was mit den U-Bahn-Röhren passieren soll, deren Beton zerbröselt? „Alles wieder verfüllen“, schlagen mit dem Thema vertraute Ratspolitiker manchmal halb ironisch, halb verbittert vor. Die Stellwerktechnik läuft immer noch mit den alten Relais: „Wir haben ausreichend Ersatzteile, wir können die Dinger sogar nachbauen“, versichert Martin Dreps, Betriebsleiter Fahrzeugtechnik an der Schweriner Straße. Aber auch er weiß, das geht nicht ewig so weiter.
In der Straßenbahn-Fahrschule
Dabei ist Dreps momentan eigentlich ganz guter Dinge: Trotz der Unfallserie hat es die Werkstatt geschafft, aus der Reserve die Lücken aufzufüllen: „Da haben alle mit angepackt, wir haben viele Arbeiten selber gemacht und nicht nach außen vergeben.“ Die ersten Bahnen rollen bald wieder auf die Schiene. Die Anforderungen im Personentransport sind hoch, die technischen Abnahmen entsprechend streng und aufwändig, deshalb die langen Reparaturzeiten.
Kollaps des Individualverkehrs
Dreps freut sich auch auf die 27 Niederflurbahnen, die 2014 kommen. Na bitte, werden jetzt viele sagen, es geht doch aufwärts. Von wegen: Alle Bahnen sind Ersatzbeschaffungen, um die ältesten Möhrchen endlich aufs Abstellgleis schieben zu können, um den barrierefreien Einstieg zu ermöglichen, wie ihn das Personenbeförderungsgesetz ab 2022 vorschreibt. Der Kauf wurde auch nur möglich, weil Evag-Chef Zierold die Millionen Euro Gewinn aus dem Cross-Boarder-Leasing dafür zurückgehalten hat. Sonst wäre die Finanzierung gescheitert. Während man übrigens früher die alten Bahnen gerne in andere Länder, zum Beispiel nach Rumänien, verkaufte, wird man diesmal alle Wagen in Essen halten – als Ersatzteillager und als eiserne Einsatzreserve.
Abteilbrand in U 17
Wie absurd sich die finanzielle ÖPNV-Ausstattung an einigen Punkten darstellt, dafür steht vielleicht das Schicksal der U-Bahn-Planung für Steele: Als in den 90er Jahren das Thema endgültig als nicht finanzierbar beerdigt wurde, setzte man auf die Beschleunigung der Straßenbahn. Allein: CDU und FDP, damals erstmals mit einer Mehrheit im Stadtrat, ließen das Projekt auf Eis legen. In der Zwischenzeit änderten sich die Förderbedingungen: Geld gibt es nur noch für eine Beschleunigung auf eigenen Gleiskörpern. Auf der Steeler Straße hätte dies zum Kollaps des Individualverkehrs geführt.
Es gibt in Essen genug zu tun
Nun haben sich Evag und Via an den barrierefreien Umbau der Strecke gemacht, scheitern mit ihrem Antrag aber bereits am Schwanenbusch. Die Idee, die Straßenführung und die Ampelanlagen an der Haltestelle für 2,5 Millionen Euro zu verändern, lehnte der VRR ab: Maßnahmen für den Individualverkehr seien nicht mehr förderfähig. Da die Stadt die mehreren 100.000 Euro nicht drauflegen wollte, basteln die Planer nun an neuen, von 60 auf 30 Metern verkürzten Bahnsteigen und verzichten auf größere Eingriffe in den Straßenraum.
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Nein, gemeckert hat darüber bei der Evag keiner. Man ist Demut gewohnt in einem Unternehmen, das regelmäßig ein Defizit meldet, 2011 von rund 68,6 Millionen Euro. Etwa die Hälfte des Betrages gleichen die Dividendenzahlungen von RWE & Co. aus, die Aktien der Stadt sind aus steuerlichen Gründen bei der Evag geparkt. Weitere 33,4 Millionen kamen aus der Stadtkasse. Als aber nun die RWE-Papiere rund 13 Millionen Euro weniger abwarfen, gab es lange Gesichter. Innerhalb der EVV haben sich letztendlich alle städtischen Töchter darauf geeinigt, die Verluste gemeinsam zu schultern. Für die Evag blieb etwas über eine halbe Million Euro übrig.
Umbauten für die Niederflurbahnen
Aber was ist das schon, wenn man an die rund 80 Millionen Euro denkt, die für Pensionsrückstellungen fällig werden bei einer zunehmend alternden Belegschaft: 60 Prozent der Evag-Mitarbeiter haben die 45 überschritten. Dass die Energiekosten steigen, das allseits gewünschte Tariftreuegesetz die Kosten nicht senken wird, zeigt für Aufsichtsrat Weber nur, „wie groß die finanziellen Risiken sind“. Dass vor diesem Hintergrund die Linie 105 bis zum Centro für gut 70 Millionen Euro ausgebaut werden soll, „dafür fehlt mir das Verständnis“, sagt der SPD-Nahverkehrsmann. Und woher das hoch verschuldete Oberhausen die 13 Millionen Eigenanteil nehmen will, während es aktuell sein Bus- und Bahn-Netz aus finanziellen Gründen zusammenstreicht, sei ihm ein Rätsel.
Dabei gibt es in Essen genug zu tun: Derzeit ist nicht mal ansatzweise klar, ob die Südstrecke nach Bredeney nun auf Stadtbahn umgerüstet wird, oder die U-Bahnsteige für die Niederflurbahnen umgebaut werden. Wahrscheinlich werden die hohen Trambahnen dort noch auf Jahre fahren, „denn wir werden weder für das eine noch für das andere Geld haben“, befürchtet Wolfgang Weber.
Für eine höhere Taktzahl ist die Evag nicht gewappnet
Dabei wäre genau dies, der Ausbau des Bus- und Bahn-Angebots, aus umweltpolitischen Gründen geboten: „Wir wollen den Anteil des ÖPNV von zurzeit 19 auf 25 Prozent steigern“, sagt Essens Umweltdezernentin Simone Raskob. „Ich weiß, das ist ambitioniert, aber es wäre ein großer Schritt hin zu unserem Klimaziel.“ Dass nur ein Umsteigen auf Bus und Bahn unmittelbare Folgen für die Luft-Qualität in dieser Stadt hat, darüber muss man nicht mehr streiten. Bei der Evag, die schon heute trotz sinkender Bevölkerungszahlen auf täglich gut 330.000 Fahrgäste kommt, schluckt man erst mal bei solchen Zahlen: „25 Prozent? Das geht aber nur, wenn die nicht alle um acht Uhr morgens am Bahnsteig stehen.“ Dass sich bereits heute Evag-Kunden in den Stoßzeiten wie Sardinen in der Dose fühlen, bestreitet bei der Evag keiner: „Wir erreichen da auf einigen Linien Grenzen.“
Schwere Zeiten
Doch für eine höhere Taktzahl ist die Evag nicht gewappnet: Zu wenig Fahrzeuge, zu wenig Gleise. Allein im Hauptbahnhof verhindert eine Weiche, über die alle Fahrzeuge rollen müssen, ein Wachstum. Gebaut für die Stadtbahn, blockiert sie heute die kleinere Straßenbahn. „Wir kommen so einfach nicht weiter“, schimpft Rolf Fliß, für die Grünen im Evag-Aufsichtsrat. „Wir müssten in den Nahverkehr investieren – und erleben das absolute Gegenteil.“
Blickt er ins Land, wird ihm bange: Der RXX, die Schnellbahn fürs Revier, an der seit Jahrzehnten geplant wird, könnte den Mehrkosten für „Stuttgart 21“ zum Opfer fallen, die Autobahnbrücken gehen in die Knie, das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz des Bundes läuft aus. Wie künftig der ÖPNV finanziert werden soll, steht in den Sternen: „Ich mache mir große Sorgen um die Evag“, sagt Fliß – und ist sich mit Wolfgang Weber einig: Es werden schwere Zeiten für den neuen Mann an der Evag-Spitze, er wird Glück brauchen, kein Pech.