Essen. Die Missbrauchsvorwürfe gegen den Gründungsbischof des Bistums Essen und ihre Folgen wühlten viele auf. Historiker mahnt mehr Differenzierung an.
Das Denkmal am Dom ist weg, Platz- und Straßennamen im gesamten Ruhrgebiet auch, und selbst der posthume Entzug des Ehrenrings der Stadt Essen wird ernsthaft diskutiert: In der jüngeren Geschichte der Stadt Essen hat niemand so schnell und so gründlich sein Ansehen eingebüßt wie Franz Hengsbach, der Gründungsbischof des Bistums Essen. Ein halbes Jahr nach dem Vorwurf, Hengsbach habe in mehreren Fällen Frauen sexuell missbraucht, hat der Kirchenhistoriker und Bochumer Lehrstuhlinhaber Prof. Dr. Florian Bock auf Einladung des Katholischen Akademikerverbands Ruhr die Vorgänge analysiert – und fügte in einem Vortrag der bisher stark dominierenden Schwarz-weiß-Sicht einige nachdenkliche Grautöne hinzu.
Die „Auslöschung“ der Erinnerung an Hengsbach sei nicht hilfreich
Weit davon entfernt, Hengsbach reinzuwaschen, machte Bock andererseits deutlich, dass ihm die im September 2023 binnen weniger Tage vollzogene Eliminierung Hengsbachs aus dem öffentlichen Raum nicht hilfreich erscheine. Es handele sich um eine „Auslöschung der Einnerung“, was der komplexen Persönlichkeit des 1991 verstorbenen Kardinals, seinem Lebenswerk und seiner Bedeutung für die Geschichte des Bistums nicht gerecht werde. Auch gelte es, die Zeitumstände, in denen Hengsbach wirkte, zu erforschen und bei der Beurteilung seines Handelns zumindest einfließen zu lassen. Das Publikum, in der großen Mehrheit ältere und engagierte Katholiken sowie Weggefährten Hengsbachs, nahm diese Mittelposition überwiegend zustimmend zur Kenntnis.
Florian Bock skizzierte Hengsbach so, wie ihn noch viele in Essen in Erinnerung haben: als ebenso kantigen wie charismatischen Kirchenfürst, der einerseits autoritär, patriarchalisch, brüsk und kühl war, andererseits kumpelhaft-leutselig und zugewandt. „Berichtet wird von raschen Stimmungswechseln zwischen diesen beiden Polen“, sagte der 41-Jährige, der glaubt, dass Hengsbach bei allem zur Schau gestellten Selbstbewusstsein Überforderungsgefühle nicht fremd waren.
Insgesamt entstand die generationstypische Charakterstudie eines Mannes, wie er so oder ähnlich noch vor wenigen Jahrzehnten viele Chef-Etagen dominierte – inklusive der verbreiteten Eigenermächtigung zu mancher Übergriffigkeit sexueller und anderer Art. Bei einem Bischof kam laut Bock noch die besondere priesterliche Aura hinzu: Nach alter Lehrmeinung konzentriere sich im Priesteramt dank göttlicher Gnade „wie in einem Gefäß die Wahrheit“.
Für einen Amtsinhaber mag eine solche Zuschreibung mitunter angenehm sein, es kann aber ebenso oft zur schweren Bürde werden, dann nämlich, wenn die Realität der felsenfest geglaubten Wahrheit zuwiderläuft. So habe Hengsbach noch halsstarrig an der Idee der großen „Volkskirche“ festgehalten, als die nachlassende Bindung der Menschen und die beginnende Austrittswelle bereits in eine ganz andere Richtung deuteten.
Hengsbach gehöre zum Kern der Identität des Bistums Essen
Seine spezifisch lokale Bedeutung und die für die damalige Zeit enorme Medienpräsenz dürfte sein Selbstbild und seine Autorität weiter verstärkt haben, so Bock: „Hengsbach gehört noch heute zum Kern der Identität, der DNA des Bistums Essen; Person, Amt und Bistum sind hier in besonderer Weise verschmolzen.“ Bock erinnerte auch an das Wort des früheren Bundeskanzlers Helmut Schmidt, der den sozial- und regionalpolitisch sehr aktiven Hengsbach sogar mal als „wichtigsten Mann des Ruhrgebiets“ bezeichnete.
Aus Sicht des Kirchenhistorikers ist eine derart stark personalisierte Prägung in den deutschen Bistümern einzigartig und erkläre die Schockwellen, die die Ereignisse des vergangenen Septembers vor allem unter älteren Gläubigen auslösten. „Ich lasse mir meinen Hengsbach nicht nehmen“, habe einer diese Haltung auf den Punkt gebracht.
Die machtvolle Position des so in die Höhe gehobenen Bischofs habe die Neigung zum Übergriffigen vermutlich verstärkt, analysierte Bock. Sollten darunter sexuelle Grenzüberschreitungen gewesen sein – und das ist ja der Vorwurf –, sei dennoch zu bedenken, dass heute dazu eine andere Sensibilität existiere als in den 1960er und 1970er Jahren.
„War Hengsbach ein Profiteur der sexuellen Liberalisierung, obwohl er den Geist der 68er-Bewegung andererseits erbittert bekämpft hat?“, fragte Bock provokant. Ändere andererseits der damalige Zeitgeist etwas an der moralischen Verfehlung?, hielt dem später eine Frau aus dem Publikum entgegen. Die jungen Frauen mag es nicht anders als heute massiv gestört haben, dass ein mächtiger älterer Mann sich ihnen näherte, es sei ihnen damals wohl nur nicht opportun erschienen, ihr Unwohlsein zu offenbaren.
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Fraglich, ob sich der genaue Charakter der Vorfälle jemals rekonstruieren lässt
In diesem Spannungsfeld zwischen „verstehen wollen“ und „verurteilen wollen“ bewegt sich der Konflikt, wobei weiterhin unklar ist, was Hengsbach denn nun im Detail getan haben soll. Sexuelle Doppelmoral war und ist vielen Klerikern, die dem Zölibat unterworfen sind, nicht fremd, strafbar ist sie aber selbstverständlich nicht. Die Auslöschung der Erinnerung wäre dann unangemessen gewesen. Nötigung hingegen oder gar noch Schlimmeres würde eine andere Dimension eröffnen.
Doch wird sich jemals der genaue Charakter der viele Jahrzehnte zurückliegenden Vorfälle verlässlich rekonstruieren lassen? Florian Bock hält das für „kaum möglich“. Das Bistum sammelt und prüft nun seit einem halben Jahr, irgendwann wird man wohl Ergebnisse erwarten dürfen.
Hengsbachs wohl unstrittige Tendenz zu übergriffigem Verhalten hatte nicht zwingend sexuellen Charakter, betonte Bock. Beispielsweise habe es den Bischof gestört, wenn seine Priester Krawatten statt den strengeren Priesterkragen trugen und er habe sie gelegentlich in demütigend-spöttischer Absicht an der Krawatte durch einen Raum gezogen.
Mag das noch eher schrullig wirken, berichtete der 1962 von Hengsbach geweihte Priester Hugo Ehm den Zuhörern in einer spontan wirkenden Wortmeldung von einem weniger anekdotischen Übergriff. Ihn habe der Bischof einst recht robust gedrängt, seinen Alkoholismus doch bitteschön unter der diskreten Obhut der Schwestern im Elisabeth-Krankenhaus zu behandeln und nicht im Essener Uniklinikum, wo sich dieser „Makel“ hätte herumsprechen können. „Es gibt keinen alkoholkranken Priester“, soll Hengsbach ihm allen Ernstes beschieden haben.
Priester-Klischee zwischen Allmacht und Realitätsverdrängung
War es so, dann hätte der Bischof damit ungewollt jenes verlogen-heroische Priester-Bild zwischen Allmacht, Realitätsverdrängung und Einsamkeitselend entlarvt, wie es der Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann in den 1970er Jahren in seinem Standardwerk „Kleriker“ scharfsinnig beleuchtete. Hugo Ehm erzählte, er habe den Alkoholentzug auch gegen den bischöflichen Willen wie geplant im Klinikum durchgestanden. Seine Karriere im Bistum sei nach diesem „Ungehorsam“ allerdings beendet gewesen.
Es waren solche Berichte von Weggefährten, die beim Vortragsabend ganz unterschiedliche Facetten aufzeigten. Martin Pischel, 18 Jahre Sekretär von Hengsbach, beschrieb seinen Chef zwar als autoritär, aber auch als beratungsfähig. Ihn störe die Hektik, mit der die heutige Bistumsleitung den Fall Hengsbach behandelt habe: „Es war doch gar nicht möglich, die Vorwürfe zu prüfen, so schnell war das Denkmal weg“, klagte Pischel und monierte, dass Hengsbachs Weggefährten nie zu Wort gekommen seien. „Nicht ein einziges Mal hat man nach unserer Meinung gefragt.“
Kritik an der Mentalität des „kurzen Prozesses“ im Fall Hengsbach
Hier blitzte mehr als nur Kritik an Bischof Franz-Josef Overbeck, Generalvikar Klaus Pfeffer und am Domkapitel auf, hier gibt es offenkundig viel Verbitterung über eine Mentalität des „kurzen Prozesses“ und der Vorverurteilung im Fall Hengsbach, die auch andere Zuhörer beklagten. Seitens der Stadt Essen nahm die Auslöschung teils bizarre Ausmaße an, als flugs sogar Straßenschilder überklebt wurden, die den Weg zum „Kardinal-Hengsbach-Haus“ wiesen. Bis zum Rausretuschieren unliebsamer Personen aus Fotos ist es da nicht mehr weit.
Fakt ist auch, dass die Bistumsleitung – kirchenpolitisch längst betont progressiv – schon lange vor den Missbrauchsvorwürfen begonnen hatte, sich vom konservativen Gründungsbischof zu distanzieren. Etwas zugespitzt könnte man sagen: Die Vorwürfe „passten“ gewissermaßen ins Konzept.
Kirchenhistoriker Florian Bock vermied direkte Kritik am Bistum, ließ jedoch durchblicken, die gewählte Strategie der „Auslöschung“ werde nicht zu einer inneren Befriedung führen. Man solle besser in einen respektvollen Dialog gehen, sich Zeit nehmen und eine Erinnerungskultur etablieren, die den „Menschen in ihren Brechungen“ gerecht werde.
Ob es angesichts der in hohem Tempo geschaffenen Fakten dafür nicht längst zu spät ist, ist eine andere Frage.
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