Essen. Seit 2021 ringt Renate Kräwinkel mit Long Covid. Nun half ihr eine Reha. Die Krankheit sei ein Geduldspiel, sagt ein Experte der Uniklinik Essen.

30 Jahre lang hat Renate Kräwinkel in einer Anwaltskanzlei gearbeitet, mit Telefongeklingel, Termindruck und dem steten Klangteppich im Büro. Seit zwei Jahren kann sie diese Begleiterscheinungen nicht mehr ertragen: Nach einer Corona-Infektion im März 2021 leidet sie an Atemnot, Erschöpfung, Konzentrations- und Wortfindungsschwierigkeiten: Long Covid. Jetzt hat eine Reha ihr Befinden verbessert.

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Wie viele Betroffene hat die 61-Jährige eine lange Leidensgeschichte hinter sich. Als sie nach fünftägigem Krankenhausaufenthalt nach Hause zurückkehrte, hoffte sie auf rasche Erholung. „Ich war noch Corona-positiv, dachte aber, das läuft jetzt wie bei einer Grippe.“ Doch sie blieb dauerhaft erschöpft, rang um Luft, mochte nicht das Haus verlassen; an Arbeit war nicht zu denken.

Manchmal fehlt ihr selbst die Konzentration, eine Nummer zu notieren

Ihr Hausarzt sei ratlos gewesen, habe sie aber ernst genommen und an andere Ärzte überwiesen. So kam Renate Kräwinkel im Sommer 2021 in eine erste Reha in Bad Ems, die mit dem konventionellen Ansatz arbeitete, die Belastung zügig zu steigern: „Da sollte ich Tag für Tag mehr in der Muckibude machen. Aus heutiger Sicht war das grundfalsch.“ Heute wird bei Long Covid geraten, sich eher langsam zu steigern. Damals habe man sie als nicht arbeitsfähig entlassen, aber ermuntert: „Das wird schon wieder.“ Ein Irrtum: Sie kehrte nicht mehr an den Arbeitsplatz zurück.

Sie hatte dort eine Fachabteilung mitaufgebaut, hatte jede Bitte des Chefs registriert, auch wenn sie gerade telefonierte. „Jetzt fehlt mir oft die Konzentration, um eine Nummer zu notieren, oder ich lese einen Text dreimal, ohne ihn zu verstehen.“ An manchen Tagen könne sie nichts aufnehmen, an anderen eine Stunde lang konzentriert arbeiten.

„Viele Krankheiten sind so ein Geduldsspiel“, sagt Prof. Christoph Kleinschnitz, Direktor der Klinik für Neurologie am Uniklinikum Essen. Das gelte nicht nur für Long Covid.
„Viele Krankheiten sind so ein Geduldsspiel“, sagt Prof. Christoph Kleinschnitz, Direktor der Klinik für Neurologie am Uniklinikum Essen. Das gelte nicht nur für Long Covid. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Als arbeitsfähig gelte, wer ein Mindestpensum von täglich sechs Stunden bewältigen könne, sagt Prof. Dr. Christoph Kleinschnitz, Direktor der Klinik für Neurologie am Essener Uniklinikum. Er kennt Renate Kräwinkel, weil sie dort an einer Long-Covid-Studie teilnahm. Zugleich verfasst er häufig Rentengutachten: „Schafft ein Patient keine sechs Stunden, geht es in Richtung Teil- oder Vollverrentung.“

Der Gutachter, der Renate Kräwinkel untersuchte, lehnte eine Verrentung ab. Zeitlebens hat sie gearbeitet, bis Long Covid sie in kurzer Zeit aus Lohnfortzahlung und Krankengeld katapultierte. Nun ist die Agentur für Arbeit für sie zuständig; die empfahl ihr jüngst eine weitere Reha. „Bei der Rentenversicherung gilt generell Reha vor Rente, da hat der Versicherte eine Mitwirkungspflicht“, sagt Kleinschnitz.

Es gibt kein Allheilmittel gegen Long Covid

Renate Kräwinkel will gern mitwirken: „Ich möchte ja auch meine Lebensqualität zurückbekommen.“ Außerdem hat sie bei der Ergotherapie bereits erlebt, wie gut ihr ein moderates Training tut. Vom Ziel, alles wieder genau wie vor ihrer Corona-Infektion leisten zu können, hat sie sich verabschiedet. Nun freut sie sich über eine Kleinigkeit, die ihr am Vortag noch nicht gelang.

In ihrer zweiten Reha, in der Mediclin Fachklinik Rhein/Ruhr in Kettwig, hat ihr niemand Wunder versprochen. „Bei der Aufnahme hieß es: ,wir haben kein Allheilmittel, wir müssen einiges ausprobieren’.“ Ihr gefiel die ehrliche Ansage. Anders als beim Herzinfarkt-Patienten oder der Reha nach der Knie-OP gebe es bei Long Covid noch keine festen Behandlungswege.

In der Zeit als Tagespatientin in der Reha hat Renate Kräwinkel Erfahrungen gesammelt: im Fitnessraum, bei der Ergotherapie oder im Schwimmbecken. Das Training im Wasser gab sie auf, weil danach der Schmerz mit Wucht zurückkam. Bei Gedächtnis- und Konzentrationsübungen hat sie sich langsam gesteigert: angefangen bei 15 Minuten, kann sie jetzt je nach Tagesform 30 bis 45 Minuten am PC sitzen.

Patienten brauchen ein „realistisches Erwartungsmanagement“

„Wir haben das in der Gruppe trainiert und alle hatten ein Problem mit der Geräuschkulisse. Dabei war es in der Kanzlei immer laut und hektisch.“ Umso hilfreicher sei der Austausch mit den Mitpatienten gewesen: Allen sei es schwergefallen, ihre Schwäche anzunehmen, „zu akzeptieren, dass wir viele Pausen machen müssen“. Es gebe eben nicht die eine Tablette gegen Long Covid, sagt Kleinschnitz. Aber: „Viele Krankheiten sind so ein Geduldsspiel.“

Um auf die langsame Medizin zu vertrauen, bedürfe es eines „realistischen Erwartungsmanagements“, erklärt der Arzt. Auf beiden Seiten. Auch die Reha-Kliniken hätten sich auf die neuen Patienten einstellen müssen. „Der Schlaganfallpatient geht nach drei, vier Wochen, bei Long Covid dauert es viel länger.“

Versicherer nennt Covid-19 die häufigste Berufskrankheit

Bei der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) ist Covid-19 aktuell die häufigste Berufskrankheit: So habe sich die Zahl der gemeldeten Covid-Infektionen von 111.126 Fällen im Jahr 2021 auf 227.496 im Jahr 2022 mehr als verdoppelt. Und: „Vor der Pandemie wurden uns nur etwa 1000 Infektionskrankheiten insgesamt pro Jahr gemeldet“, sagt BGW-Hauptgeschäftsführer Jörg Schudmann im Magazin des Verbandes (2/2023).

Die meisten Corona-Infektionen verliefen unproblematisch, doch bei etwa einem Prozent der Fälle gebe es „komplexe Long- bzw. Post-Covid-Symptomatiken“. Ziel der BGW sei es, „Versicherte wieder zurück in den Beruf zu bringen“. Inzwischen gebe es Programme zur medizinischen und beruflichen Rehabilitation, die gute Erfolge erzielten. Doch Schudmann sagt auch: „Bei Post Covid dauert die Reha-Behandlung wegen der vielfältigen Symptome zum Teil sehr lang.“

Für Renate Kräwinkel war die Reha am 25. April nach acht Wochen beendet. Von dem, was sie mal konnte, sei sie noch weit entfernt: „Früher hab’ ich die Wohnung in einem Rutsch geputzt, heute bin ich froh, wenn ich ein Zimmer schaffe. Und mit dem Hund bin ich viel kürzer unterwegs.“ Dennoch gehe es ihr nach der Reha besser, zwar nicht physisch, aber psychisch, weil man ihr sehr geduldig zugehört habe, um zu ermitteln, was ihr helfen könnte.

Da die Atemnot sie sehr quält, habe ihr gutgetan, dass sie dort alles mit Sauerstoffmaske machen konnte: „Das half nicht nur auf dem Ergometer, sondern hat auch meine Konzentration verbessert.“ So klar, dass sie das Sauerstoffgerät für zunächst drei Monate auch zu Hause nutzen wird. Auch haben die Reha-Ärzte sie zur Abklärung in die Lungenklinik überwiesen.

Rückkehr an den Arbeitsplatz ist das oberste Ziel der Versicherer

Ob sie einmal an ihren Arbeitsplatz zurückkehren kann, ist ungewiss. Doch anders als viele der jungen Mitpatienten müssten sie mit 61 Jahren keine Existenzängste plagen, egal wie die Entscheidung über die Verrentung ausfällt. Aus Sicht von Versicherungen habe eine Reha das oberste Ziel, Menschen in die Arbeit zurückzubringen, sagt Kleinschnitz. Für den Patienten selbst könne es auch ein Erfolg sein, wenn er Strategien erlernt, mit der Krankheit umzugehen, wieder am sozialen Leben teilzunehmen. „Die Leute müssen sich aber darauf einlassen und ein bisschen mitarbeiten“, ergänzt Renate Kräwinkel.

Sie ist dankbar, dass ihr Mann, ihr Sohn und ihr Umfeld stets Verständnis für sie hatten. Es gebe Long-Covid-Patienten, die von der eigenen Familie für Simulanten gehalten würden. Darum sei es so wichtig, dass die Erkrankung besser erforscht werde. Sie selbst sei nicht geheilt – aber auf einem guten Weg.