Essen. Die Angst vor Long Covid ist groß – und weitgehend unbegründet, sagt ein Mediziner der Uniklinik Essen. Organisch fehle den Patienten oft nichts.
Viele Menschen haben heute mehr Angst vor Long Covid als vor der Covid-Erkrankung selbst. Tatsächlich leiden Betroffene oft für lange Zeit an erheblichen Einschränkungen. Trotzdem bestehe kein Grund zur Panik, sagt Prof. Dr. Christoph Kleinschnitz, Direktor Klinik für Neurologie an der Uniklinik Essen. In der Long-Covid-Ambulanz des Klinikums habe man zahlreiche Patienten untersucht – den allermeisten könne gut geholfen werden.
Herr Professor Kleinschnitz, haben wir es bei Long Covid mit einer drohenden Volkskrankheit zu tun?
Kleinschnitz: Die Zahlen gehen zwar noch auseinander, aber man kann ziemlich gesichert davon ausgehen, dass etwa zehn Prozent der Covid-19-Patienten von Long Covid betroffen sind. Rein quantitativ könnte man folglich von einer Volkskrankheit sprechen. Trotzdem tue ich mich mit dem Begriff hier schwer. Ich sehe bei Long Covid einen qualitativen Unterschied zu Volkskrankheiten wie Krebs, Herzinfarkt oder Schlaganfall, die sowohl für den Betroffenen als auch für die Gesellschaft deutlich schwerere Auswirkungen haben. Ich will die Long-Covid-Symptome nicht kleinreden, doch die körperlichen Folgen sind bei den genannten Krankheiten meist viel krasser.
Außerdem leidet man an Volkskrankheiten dauerhaft, zumindest aber viele Jahre. Das sehen wir bei Long Covid nicht: Weit über 90 Prozent unserer Patienten sind nach sechs bis zwölf Monaten komplett oder nahezu symptomfrei. Ich teile die Panik vor Long Covid daher nicht.
Gemeinsam mit den Kollegen der Infektiologie und den Psychosomatikern betreibt die Klinik für Neurologie seit Herbst 2020 die Long-Covid-Ambulanz der Uniklinik Essen. Sind eher die Patienten betroffen, die einen schweren Krankheitsverlauf hatten?
Nein! Nur gut fünf Prozent der Patienten waren auf einer Normalstation im Krankenhaus, weniger als ein Prozent auf der Intensivstation. Die meisten der gut 170 Long-Covid-Patienten, die wir in unserer Studie untersucht haben, hatten einen milden oder moderaten Krankheitsverlauf. Darunter sind keine bloßen Verdachtsfälle: Wir haben nur Betroffene aufgenommen, die eine durch einen PCR-Test bestätigte Covid-Infektion hatten.
Symptome reichen von Herzrasen bis Haarausfall
Im August 2021 hat die Fachzeitschrift „The Lancet“ mehr als 200 mögliche Long-Covid-Symptome aufgelistet: von Herzrasen bis Haarausfall. Unter welchen Symptomen leiden Ihre Patienten?
An erster Stelle steht das Fatigue-Syndrom, also eine pathologische Müdigkeit, die übrigens auch nach anderen schweren Erkrankungen auftritt. Daneben leiden viele Betroffene an Kopfschmerz, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Wortfindungsschwierigkeiten und Brain Fog, also dem Gefühl, dass ihr Denken vernebelt ist. Sie sind insgesamt in Aktivität, Leistung und Belastbarkeit schwer eingeschränkt.
Wie lässt sich das erklären?
Wir machen mit den Patienten umfangreiche Testbatterien: Das reicht von Ultraschall und MRT, über neurologische Untersuchungen wie die Vermessung des Nervensystems oder die Untersuchung von Nervenwasser, bis zu Lungen- und Labortests. Die Erstvorstellung dauert daher mehrere Stunden. Bei der Auswertung sind die Befunde in allen Bereichen bei 85 bis 95 Prozent der Patienten unauffällig. Das gilt auch für die Entzündungswerte.
Viele Long-Covid-Patienten haben psychiatrische Vorerkrankungen
Sprich: Es gibt keine organischen Ursachen?
Zumindest sind sie nicht messbar. Mit Ausnahme von einzelnen Fällen von Multipler Sklerose oder Polyneuropathie, die bei den Untersuchungen entdeckt wurden und mit Corona nichts zu tun hatten.
Bei den Eingangstests der Psychosomatiker fiel dagegen auf, dass 20 Prozent der Betroffenen psychiatrische Vorerkrankungen wie posttraumatische Belastungsstörungen oder Angststörungen hatten. Eine Psychiatrie-Vorgeschichte ist demnach ein Risikofaktor für Long Covid. Allerdings sind auch diese Patienten überzeugt, dass ihre Symptome – darunter Ängste oder Depressionen – Covid-bedingt sind.
Wollen Sie damit sagen, dass sie sich Long Covid nur einbilden?
Das ist ein weit verbreitetes Missverständnis: Weder halten wir diese Patienten für Simulanten noch bezweifeln wir, dass sie tatsächlich leiden. Das waren teils Marathonläufer, die jetzt am Treppensteigen scheitern, die erkennen sich selbst nicht mehr. Und tatsächlich finden sich in der neuropsychologischen Testung auch häufiger Auffälligkeiten. Es gibt nur nicht die eine kausale – möglichst organische – Erklärung, die manche Patienten vielleicht erwarten.
In der Fachliteratur finden sich auch Patienten mit Herz- und Lungenproblemen. Bei anderen wird das Coronavirus noch Monate nach der Infektion in den Organen entdeckt. In diesen Fällen kann man kaum von psychiatrischen Erkrankungen sprechen . . .
Richtig, es treten auch Herz- und Atemprobleme auf. Die dürften in der Regel noch direkte Folgen der akuten Covid-19-Erkrankung sein. Solche Patienten verweisen wir an andere Stellen. Wir konzentrieren uns auf das Nervensystem – und im Nervenwasser haben wir noch in keiner einzigen Untersuchung Viruspartikel gefunden.
Wenn wir bei unserer aufwendigen Diagnostik doch etwas Organisches finden, behandeln wir das selbstverständlich. Wir haben aber den Eindruck, dass ein Großteil der Symptome durch unterbewusste psychologische Vorgänge ausgelöst wird. Auch das kann man sehr gut behandeln. Nur ist die Bereitschaft dazu weniger ausgeprägt, weil seelische Leiden gesellschaftlich nicht so akzeptiert sind. Viele laufen lieber von Arzt zu Arzt, bis es irgendeinen Zufallsbefund gibt – oder eine abenteuerliche Diagnose. Das kann nicht nur teuer werden, sondern auch gefährlich, wenn den verzweifelten Patienten zum Beispiel unerprobte Therapien wie eine Blutwäsche empfohlen wird.
Long Covid und Post Covid
Eine akute Covid-19-Erkrankung dauert in der Regel bis zu vier Wochen. Wenn nach diesem Zeitraum neue Symptome hinzutreten, spricht man von Long Covid. Dauern die Krankheitssymptome länger als zwölf Wochen an und sind durch keine andere Diagnose erklärbar, gilt dies als Post Covid.
Long und Post Covid seien allerdings nur schwer abzugrenzen, sagt Prof. Christoph Kleinschnitz. Die sehr akademische Unterscheidung werde daher im Klinikalltag kaum gemacht.
Was raten Sie stattdessen?
Es gibt nicht die eine Therapie gegen Long Covid, aber einzelne Symptome wie Kopfweh oder Schlafprobleme können sehr gut medikamentös behandelt werden. Für die bunte Mischung an Symptomen haben wir keine plausible Erklärung und auch kein Allheilmittel. Die Klinik für Psychosomatische Medizin des LVR-Klinikums hat jedoch gute Erfolge mit dem Programm „Cope it“, bei dem die Patienten den Umgang mit belastenden Situationen trainieren. Denn es scheint, als laufe bei den Betroffenen etwas mit der Krankheitsverarbeitung schief. Das geschieht auch nach anderen schweren Krankheiten: Manchmal werden einzelne Symptome so überbewertet, dass es zu einem Angstkreislauf kommt.
Beschäftigte aus Schul- und Gesundheitswesen trifft es oft – Bauarbeiter fast nie
Gibt es einen typischen Patienten?
Die Psychosomatiker sagen, es gibt keinen Long-Covid-Charakter. Unsere Daten zeigen, dass es mehr Frauen trifft als Männer und dass viele zwischen Mitte 30 und Mitte 50 sind, also in einem Alter, in dem sie voll im Berufsleben stehen und dazu oft familiär stark eingebunden sind. Interessant ist, dass Menschen aus dem Schul- oder Gesundheitswesen sowie aus Dienstleistung und Verwaltung erheblich häufiger vertreten sind als etwa Handwerker oder Bauarbeiter. Es trifft offenbar eher Menschen, die sich für Gesundheitsthemen interessieren und sich stärker selbst beobachten.
Auch die Wissenschaft schenkt Long Covid große Beachtung ...
Auch die Medizin ist Moden unterworfen. Aktuell wird Long Covid größer gemacht, als es ist – wohl aus unterschiedlichen Motiven. Es gibt einen wachsenden Markt für Reha-Maßnahmen, die schon mal Wellness-Urlauben gleichen. Die Politik rechtfertigt mit Long Covid Einschränkungen, Ärzte nutzen die Forschungsmittel. All das wird medial begleitet und führt zu einer Art Packungsbeilagen-Effekt: Es gibt immer mehr Betroffene mit Long-Covid-Symptomen – sogar solche, die nie Covid hatten. Langfristig halte ich Forschung zu Tumoren, Schlaganfall und Herzinfarkt für gesellschaftlich zielführender.
Sie forschen selbst zu Long Covid, und die Ambulanz ist gut besucht, man wartet lange auf einen Termin.
Richtig, und meine Erkenntnis ist, dass die Perspektiven für viele Betroffenen gut sind, wenn sie nicht einem Laborwert hinterherjagen, sondern sich einem Psychologen oder Coach anvertrauen. Wir Ärzte könnten sie ermutigen, sich etwas zuzutrauen, aktiv zu werden, wieder Sport zu treiben. Wenn das mehr beherzigt wird, habe ich vor Long Covid keine Angst.