Essen. Viele Long-Covid-Patienten fühlen sich von der Medizin nicht ernst genommen. Eine Ärztin der LVR-Uniklinik Essen bietet ihnen eine neue Therapie.

Auch in Essen leiden Tausende Patienten nach einer Covid-19-Infektion an so hartnäckigen wie schwerwiegenden Symptomen, viele sind monatelang nicht arbeitsfähig. Unter Experten ist umstritten, was das als Post oder Long Covid bekannte Krankheitsbild auslöst; auch eine gesicherte Therapie gibt es noch nicht. Einige Betroffene lassen sich auf teils so fragwürdige wie kostspielige Behandlungen ein.

An der LVR-Universitätsklinik Essen läuft seit Oktober 2022 die „Positiv Studie“: Ein Team aus Ärzten und Psychologen will herausfinden, ob den Patienten mit einem psychosomatischen Ansatz geholfen werden kann. Wir sprechen mit der Ärztin Dr. Hannah Dinse, die den Forschungsbereich Post Covid-19 der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie leitet.

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Frau Dinse, viele Post- und Long-Covid-Patienten fühlen sich von der Medizin nicht ernst genommen, weil ihre Krankheit oft als psychisch bedingt bezeichnet wird. Sind tatsächlich mehr Menschen betroffen, die schon vor der Covid-19-Infektion psychische Probleme hatten?

Hannah Dinse: Es ist wissenschaftlich schwer zu erfassen, wie die Situation vorher gewesen ist. Sicher haben psychisch Kranke ein höheres Risiko für eine Belastungsstörung, wie sie oft mit Post Covid einhergeht. Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass Post Covid eine psychische Erkrankung ist – und schon gar nicht, dass sich die Patienten die Krankheit einbilden.

Bisher lassen sich die organischen Beschwerden aber nicht medizinisch erklären. Die Befunde der Patienten sind meist unauffällig, es gibt keinen Blutwert, an dem sich Post Covid festmachen lässt...

Nur, weil man hier wissenschaftlich noch nichts herausfinden konnte, heißt das nicht, dass die Belastung nicht da wäre. Die Symptome wie Luftnot, Erschöpfung, Konzentrationsprobleme, Herzrasen, verminderte Belastbarkeit und Niedergeschlagenheit werden vielfach beobachtet und greifen ineinander.

Long-Covid-Patienten brauchen viel Geduld

Wie sieht das aus?

Wer so heftige Beschwerden hat, dass er monatelang nicht arbeiten kann und als Hauptverdiener ausfällt, bekommt auch Probleme in seinem persönlichen Umfeld. Lässt sich die Situation nicht lösen, steigt seine Belastung noch, was einer Heilung abträglich ist: Der Patient gerät in einen Teufelskreis. In der Medizin beschreibt man solche Wechselwirkungen mit dem Bio-Psycho-Sozialen Krankheitsmodell.

Ist es bei Post Covid besonders schwierig, aus diesem Teufelskreis zu entkommen?

Es wird erschwert, weil die Forschung hier noch in den Kinderschuhen steckt und es wenig gesicherte Informationen zu einer Heilung gibt. Es ist nicht leicht, in einer so belastenden Situation zu hören: „Warten Sie ab, es bessert sich.“

Wie lange müssen Patienten Geduld haben, bis es besser wird?

Beim Großteil der Patienten tritt nach einem halben Jahr von selbst eine Besserung ein. So lange auf die Erholung warten zu sollen, ist häufig schwer zu akzeptieren. Zumal chronische Müdigkeit und Muskelschmerzen sie bis dahin in jedem Alltagsbereich einschränken. Viele sind so um die 40 Jahre alt, stehen in der Mitte des Lebens und können schlecht hinnehmen, dass sie plötzlich nicht mehr leistungsfähig sind. Etliche sagen von sich, sie hätten immer 120 Prozent gegeben. Sie wollen die Heilung oft erzwingen und gehen über ihre Grenzen, was wieder zur Verschlechterung führt.

Die LVR-Universitätsklinik Essen in den Cranachhöfen in Essen-Holsterhausen.
Die LVR-Universitätsklinik Essen in den Cranachhöfen in Essen-Holsterhausen. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Gibt es den typischen Post-Covid-Patienten?

Wir haben in Studien in Zusammenarbeit mit der Uniklinik rund 600 Menschen befragt. Dabei suchen wir nach Mustern, um die Erkrankung besser zu verstehen, das ist echte Detektivarbeit. Neben dem mittleren Alter stellen wir fest, dass mehr Frauen als Männer zu uns kommen. Das mag auch daran liegen, dass sich Frauen generell mehr um ihre Gesundheit kümmern. Man kann auch nicht sagen, dass Risikopatienten mit herabgesetztem Immunsystem oder Vorerkrankung eher Post Covid bekommen.

Positiv-Studie untersucht Patienten mit Belastungsstörung

Im Oktober 2022 ist die Positiv-Studie des LVR-Klinikums Essen gestartet. Sie untersucht einen innovativen, ambulanten Behandlungsansatz für Menschen, die an Post Covid leiden und Symptome einer Belastungsstörung haben. Die Interventionsgruppe erhält eine Biofeedback-Therapie und macht zu Hause Atemübungen. Die Kontrollgruppe spricht in sechs verhaltenstherapeutischen Gruppengesprächen über Strategien zum Umgang mit den Belastungen.

Zum Team gehören: Dr. Hannah Dinse, Dr. Venja Musche, Dr. Alexander Bäuerle, Prof. Dr. Eva-Maria Skoda und Prof. Dr. Martin Teufel.

Wer an der Studie teilnehmen möchte, erreicht das LVR-Klinikum montags bis freitags von 8 bis 16 Uhr unter 0201-438 755 101.

An wen wendet sich die aktuelle Studie?

Wir wollen Post-Covid-Patienten, die eine psychische Belastung haben, ein Behandlungsangebot machen. Dazu erhalten die Teilnehmer eine große Diagnostik mit einem 50-minütigen Gespräch. Dann werden sie nach Zufallsprinzip der Behandlungs- oder der Kontrollgruppe zugeteilt. Letztere erhält das erprobte psychosomatisch-psychotherapeutische Programm unserer Klinik, das positive Effekte bei Menschen erzielt, die z.B. eine Krebserkrankung oder einen Herzinfarkt haben oder hatten. Dazu gehören Achtsamkeits- und Entspannungstechniken sowie ein Symptom-Tagebuch, in dem man notiert, wann welche Symptome auftreten.

Atemtraining soll Betroffenen helfen

Die andere Gruppe soll unter anderem bewusstes Atmen lernen – warum?

Bei den Betroffenen zeigt sich häufig eine vegetative Dysregulation: Sie nehmen automatisch ablaufende (vegetative) Prozesse wie Herzschlag oder Atmung stärker wahr als andere. Darum sollen sie lernen, ihre Atmung zu beeinflussen. Wir machen das mit Biofeedbacktraining: Das heißt, sie schnallen sich ein kleines Gerät um, das die Atemfrequenz misst und mit ihrem Handy gekoppelt ist. So sehen sie quasi, wie sie atmen: Durch die Visualisierung fällt es dem Gehirn leichter, das bessere Atmen zu lernen. Dazu kommt eine Online-Gruppentherapie.

Was erhoffen Sie von der Studie?

Im besten Fall hilft der Behandlungsansatz den Patienten, ihre Selbstwirksamkeit zu stärken, ihre Lebensqualität zu verbessern und die psychische Belastung zu verringern. So könnte schon in einem frühen Stadium von Post Covid eine Chronifizierung abgewendet werden. Die Studie läuft noch einige Monate, weitere Teilnehmer sind willkommen. Wir arbeiten zusammen mit der Universitätsmedizin, tauschen uns mit Selbsthilfegruppen und Krankenkassen aus, und hoffen dass wir am Ende Behandlungsempfehlungen geben können, die auch in die Leitlinien der Kassen einfließen – bisher herrscht auch dort noch viel Hilflosigkeit im Umgang mit Post Covid.