Essen. Ein Mediziner der Uniklinik Essen warnt vor Geschäftemachern, die Wundertherapien bei Long Covid anbieten. Psychotherapien könnten indes helfen.

  • Viele Betroffene fühlten sich angegriffen, als Prof. Christoph Kleinschnitz erklärte, mit Long Covid werde zu viel Panik gemacht
  • Der Mediziner von der Uniklinik Essen betont, dass er den Patienten Mut machen wolle
  • Zwar hätten die meisten unauffällige Befunde, doch er bestreite selbstverständlich nicht ihr Leiden
  • Die Psyche spiele bei Long Covid eine wichtige Rolle, er ermutige Betroffene daher, eine Psychotherapie zu beginnen
  • Mit der Gründerin einer Selbsthilfegruppe ist er in regem Austausch: Silke Berner-Cakic nimmt starke Schmerzmittel, besucht inzwischen aber auch einen Psychologen
  • Aufpassen sollten Patienten, wenn ihnen jemand Wunderbehandlungen anbiete – das sei oft Geschäftemacherei mit der Verzweiflung der Betroffenen


Mit Long Covid werde zu viel Panik gemacht, erklärte Prof. Dr. Christoph Kleinschnitz von der Uniklinik Essen Anfang des Jahres – und erntete heftigen Widerspruch. Auch Silke Berner-Cakic schrieb an den Neurologen, schilderte ein Leiden, das kein Ende zu nehmen schien: Pein, nicht Panik. Seither tauschen sich Arzt und Patientin aus.

Silke Berner-Cakic ist 44 Jahre alt, hat ein Vierteljahrhundert lang als Altenpflegerin gearbeitet und sich im November 2020 an ihrem Arbeitsplatz mit Covid-19 infiziert. „Damals war der gesamte Wohnbereich betroffen, viele der Bewohner sind gestorben.“ Als sie Erkältungssymptome und starke Kopfschmerzen hatte, habe sie einen Schnelltest gemacht, war positiv. „Mein Mann hat geweint.“ Auch er arbeitet in dem Seniorenheim, hatte gesehen, was Corona anrichten kann.

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Sie muss nicht im Krankenhaus behandelt werden, erkrankt aber heftig. Bisher wirksame Tabletten helfen der Migräne-Patientin nicht mehr. Nach dreiwöchiger Quarantäne ist sie weitere sechs Wochen krankgeschrieben. Als sie danach in den Job zurückkehrt, erlebt sie eine nie gekannte Abgeschlagenheit, hat quälende Muskelschmerzen, bekommt keine Luft. „Vorher habe ich zwei, drei Mal die Woche Sport getrieben, das ging nicht mehr.“

Essener Long-Covid-Ambulanz fand kaum auffällige Befunde

Um überhaupt arbeiten zu können, reduziert sie ihre Arbeitszeit auf 60 Prozent, hangelt sich monatelang von Urlaub zu Urlaub. „Mein Hausarzt hat mich von Anfang an ernst genommen, aber erst spät die Diagnose Long Covid gestellt.“

Viele Ärzte hätten den Patienten anfangs ratlos gegenüber gestanden, sagt Prof. Kleinschnitz. Er ist Direktor der Klinik für Neurologie, die mit Infektiologen und Psychosomatikern, seit Herbst 2020 die Long-Covid-Ambulanz der Uniklinik Essen betreibt. In umfangreichen Testbatterien stellten sie fest, dass 85 bis 95 Prozent der Long-Covid-Patienten unauffällige Befunde haben.

Es gebe deutliche Hinweise, dass die Psyche bei Long Covid eine zentrale Rolle spiele: „Es macht etwas mit einem Menschen, wenn er eine lebensbedrohliche Krankheit hinter sich hat“, sagt Kleinschnitz. „Wenn bei Ihnen eingebrochen wurde, haben sie nachher auch nicht mehr dasselbe Sicherheitsgefühl.“ Bei Krebspatienten habe sich diese Erkenntnis durchgesetzt, die Psycho-Onkologie sei etabliert; ähnlich sei es bei Herzkranken. „Im Zuge der Pandemie ist es leider noch nicht so akzeptiert, sich psychologisch begleiten zu lassen.“

Arzt warnt vor zu langer Schmerzmittel-Einnahme

Im Gegenteil: „Bei vielen Patienten fällt gleich der Vorhang, wenn wir eine Psychotherapie empfehlen. Manche sind empört, fühlen sich für irre erklärt.“ Es gebe eine Sehnsucht nach einfachen Ursache-Wirkung-Erklärungen und -Behandlungen: „Problem – Tablette“.

Auch Silke Berner-Cakic kämpft mit starken Schmerzmitteln gegen das dauerhafte Kopfweh und die anhaltenden Muskelschmerzen, nimmt dazu Schlafmittel. Im Oktober 2021, fast ein Jahr nach ihrer Corona-Infektion, geht dennoch nichts mehr: „Ich lag fast nur noch, hab’ höchstens mal ferngesehen.“ Seither kann sie nicht mehr arbeiten. Sie sei in depressive Phasen gerutscht, habe dünnhäutig auf kleinste Kritik reagiert, sei wütend und aggressiv geworden, auch gegen sich selbst. „Das macht etwas mit der Psyche.“

„Ich lag fast nur noch, hab’ höchstens mal ferngesehen“, sagt Silke Berner-Cakic über die schlimmste Phase ihrer Long-Covid-Erkrankung. Inzwischen erlebt sie erste Erfolge.
„Ich lag fast nur noch, hab’ höchstens mal ferngesehen“, sagt Silke Berner-Cakic über die schlimmste Phase ihrer Long-Covid-Erkrankung. Inzwischen erlebt sie erste Erfolge. © FUNKE Foto Services | Bastian Haumann

Schmerzmittel könnten je nach Dauer und Dosierung sogar kontraproduktiv sein, warnt Kleinschnitz. Migräne-Patienten wie Berner-Cakic erlebten, dass der Schmerz nicht zu bezähmen sei, und dosierten die Mittel immer höher: „Das kann abhängig machen und einen medikamenteninduzierten Kopfschmerz auslösen.“ Ein riskanter Kreislauf.

Nach einer Corona-Infektion sind viele Patienten von Long Covid betroffen. Das Interesse am Thema ist entsprechend groß. Bei einer Info-Veranstaltung der Uniklinik Essen im Grugapark (Bild) wiesen die Experten Ende August 2022 darauf hin, dass die allermeisten Betroffenen wieder gesund werden.
Nach einer Corona-Infektion sind viele Patienten von Long Covid betroffen. Das Interesse am Thema ist entsprechend groß. Bei einer Info-Veranstaltung der Uniklinik Essen im Grugapark (Bild) wiesen die Experten Ende August 2022 darauf hin, dass die allermeisten Betroffenen wieder gesund werden. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Die 44-Jährige ist sensibilisiert für die Problematik – und offen für Psychotherapien: „15 Praxen musste ich anrufen, bis ich einen Termin bekommen hab’.“ Sie versteht sich gut mit dem Psychologen, sieht Erfolge, doch die AOK trägt nur fünf Termine. „Jetzt zahle ich das selbst.“

Geschäftemacher nutzen Verzweiflung der Patienten aus

Kleinschnitz kritisiert die Politik der Krankenkassen: „Sie bekäme mühelos ein halbes Dutzend kostspieliger MRT-Termine bezahlt – aber keine längere Psychotherapie. Dabei ist die psychische Belastung von Long-Covid-Patienten hoch, ihnen müsste der Zugang zu Therapien erleichtert werden.“ Leider gebe es auch lange Wartelisten: Der Bedarf an Therapeuten sei riesig.

„Es macht etwas mit einem Menschen, wenn er eine lebensbedrohliche Krankheit hinter sich hat. Wenn bei Ihnen eingebrochen wurde, haben sie nachher auch nicht mehr dasselbe Sicherheitsgefühl“, sagt Prof. Christoph Kleinschnitz, Direktor der Klinik für Neurologie an der Uniklinik Essen.
„Es macht etwas mit einem Menschen, wenn er eine lebensbedrohliche Krankheit hinter sich hat. Wenn bei Ihnen eingebrochen wurde, haben sie nachher auch nicht mehr dasselbe Sicherheitsgefühl“, sagt Prof. Christoph Kleinschnitz, Direktor der Klinik für Neurologie an der Uniklinik Essen. © FUNKE Foto Services | Bastian Haumann

Der Neurologe warnt aber auch vor zu hohen Heilserwartungen: Wie bei Patienten mit chronischem Schmerz müsse man realistische Behandlungsziele setzen und sie den Betroffenen vermitteln. „Sonst laufen die von Arzt zu Arzt, bis man irgendeine Normabweichung findet.“ In ihrer Verzweiflung seien viele auch bereit, hohe Summen für fragwürdige Therapien zu zahlen.

Selbsthilfegruppen als wertvolle Hilfe

„Für manche Kollegen ist Covid-19 ein gutes Geschäft“, sagt Kleinschnitz, der zum Beispiel nichts von einer Blutwäsche bei Long-Covid hält. Das Verfahren sei in der universitären Schulmedizin für diese Diagnose „mehrheitlich nicht akzeptiert“ – und könne riskant sein.

Selbsthilfegruppe tauscht sich online aus

Im April 2021 gründete Silke Berner-Cakic mit anderen Betroffenen in Duisburg eine Long-Covid-Selbsthilfegruppe. „Da wir eine der ersten waren und uns online austauschen, sind Leute aus ganz Deutschland dabei.“ Mittlerweile haben sich die etwa 20 Mitglieder auch schon mal zum Essen getroffen, sind Freundschaften entstanden.

Der plakative Ausspruch des Essener Neurologen Prof. Christoph Kleinschnitz von Februar 2022, mit Long Covid werde zu viel Panik gemacht, löste auch in der Duisburger Gruppe Unmut aus. Berner-Cakic schrieb dem Arzt, der damals etliche teils irritierte, teils unflätige Mails erhielt – und alle persönlich beantwortete. Der Duisburgerin konnte er vermitteln, dass er die Leiden der Patienten nicht verniedlichen, sondern ihnen eine positive Perspektive aufzeigen wolle: Die meisten erlangten wieder ihre alten Kräfte, nur könne das Monate dauern. Kleinschnitz stellte sich auch der Diskussion mit der Gruppe.

Silke Berner-Cakic ist per Mail erreichbar:

Auch Silke Berner-Cakic, die in ihrer Heimatstadt Duisburg eine Long-Covid-Selbsthilfegruppe gegründet hat, kennt Patienten, die viel Geld für umstrittene Behandlungen ausgeben. Sie selbst freut sich, dass sie im Oktober eine Reha in Kettwig beginnen kann. „Es geht aufwärts.“ In die kräftezehrende Altenpflege werde sie wohl nicht zurückkehren; hoffe vielmehr, in den Sozialdienst wechseln zu können. Allmählich könne sie akzeptieren, dass vieles nicht mehr so möglich sei wie früher. Geholfen habe ihr dabei der Austausch in der Gruppe.

Selbsthilfegruppen seien bei vielen Krankheiten hilfreich und von Patienten akzeptiert, bestätigt Prof. Kleinschnitz. „Ich wünschte, dass die Betroffenen sich ebenso offen auf eine Psychotherapie einließen.“