Essen. Welche Folgen wird Corona für die Essener Innenstadt haben? Wie müssen sich Händler verändern? Der Chef des Handelsverbandes dazu im Interview.

Monatelanger Lockdown, dann Test- und Terminpflicht: Der Einzelhandel in Essen war von den Folgen der Corona-Pandemie besonders gebeutelt. Die Krise wird den Handel nachhaltig verändern und auch die ohnehin gebeutelte Essener Innenstadt steht vor großen Umbrüchen, wenn sie eine Zukunft haben soll. Der Hauptgeschäftsführer des Essener Handelsverbandes, Marc Heistermann, sieht dennoch auch optimistische Signale.

Herr Heistermann, kein Click & Meet mehr, keine Corona-Tests. Wie wichtig sind jetzt diese Lockerungen für die Essener Händler?

Marc Heistermann: Diese Lockerungen sind enorm wichtig, da sie uns einem normalen Einkaufserlebnis, wie es Kunden aus der Vergangenheit kennen und schätzen, wieder ein Stück weit näher bringt. Einkaufen muss möglichst einfach und bequem sein. Click & Meet und die Tests haben den Händlern zwar die Möglichkeit gegeben, nach dem langen Lockdown wieder zu öffnen. Damit konnten sie wenigstens ein Signal setzen: Wir sind noch da! Aber die Umsatzeinbußen gegenüber Vor-Coronazeiten waren trotzdem enorm. Umsatzeinbrüche durch die Testpflicht von 60 Prozent und 50 Prozent durch Click & Meet sprechen eine deutliche Sprache.

Welche Folgen wird das haben? Die Industrie- und Handelskammern im Ruhrgebiet befürchten, dass es zu einer Kernschmelze im Einzelhandel kommt.

Von Kernschmelze würde ich nicht sprechen. Das hat etwas Destruktives. Aber es stimmt. Die Umbrüche sind gewaltig und die Pandemie hat den Strukturwandel im Einzelhandel noch einmal enorm vorangetrieben. Experten sprechen davon, dass Corona die Entwicklung um etwa vier Jahre beschleunigt hat.

Sie meinen damit, dass der Onlinehandel noch mal enorm zugelegt hat.

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Ja. Vor allem auch die Kunden, die bislang mit dem Internet eher wenig zu tun hatten, haben damit nun Bekanntschaft gemacht und gelernt, dass Onlinehandel durchaus einfach funktioniert. Im vergangenen Jahr war schon jeder dritte Online-Käufer über 60 Jahre alt. Ein Jahr zuvor war es noch jeder Vierte gewesen. Das sind zwar Kunden, die ich per se für den stationären Einzelhandel noch nicht verloren sehe. Aber man kann davon ausgehen, dass sie auch nach Corona vermehrt online einkaufen werden. Auf die Händler kommen schwere Zeiten zu.

Welche Branchen in Essen hat Corona besonders getroffen?

Das sind im Grunde dieselben wie bundesweit. Textil, Schuhe, Lederwaren. Gerade der Modehandel, der besonders die Innenstädte prägt und über Jahre dort die großen Flächen angemietet hat, beklagt ein deutliches Minus.

Sehen wir bald die befürchtete große Schließungswelle auch in der Essener Innenstadt?

Ich hoffe nicht, aber es wird Auswirkungen geben. Im Mai ist die Insolvenzantragspflicht wieder eingeführt worden, da wird man sehen, welche Folgen das hat. Vieles wird auch davon abhängen, wie zügig die noch ausstehenden Coronahilfen gezahlt werden.

Wie wird sich das Bild der Innenstadt nach Corona verändern?

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Ich gehe davon aus, dass wir mehr Wandel in den Branchen erleben werden. Die Sortimente werden sich verändern. Ein Beispiel dafür ist der ehemalige Kaufhof am Willy-Brandt-Platz. Dort soll künftig ein Supermarkt einziehen. Neben Lebensmitteln könnte ich mir auch vorstellen, dass Möbel oder Baumarktartikel verstärkt in die Innenstädte kommen.

Nahversorgungsangebote in einer Innenstadt, in der kaum Menschen wohnen. Kann das funktionieren?

Dass dort wenige Menschen wohnen, muss ja nicht so bleiben. Ich denke, Wohnen und Arbeiten wird auch in der Essener Innenstadt ein größeres Thema werden. Die Pandemie hat gerade in den Stadtteilen gezeigt, dass in dieser Verknüpfung eine Chance steckt. Die Menschen arbeiten mehr von zu Hause, möchten gerne dort einkaufen, wo sie wohnen, wollen keine langen Wege.

Schon vor Corona haben in der Innenstadt Billig-Kaufhäuser oder Drogeriemärkte den Platz von namhaften Textilläden eingenommen. Viele Essener empfinden das als Qualitätsverlust. Müssen wir uns nach Corona immer mehr von Qualität verabschieden?

Von Qualität dürfen wir uns mit Sicherheit nicht verabschieden. Qualitativ gute Geschäfte siedeln sich aber nur an, wenn es auch ein entsprechend kaufkräftiges Publikum gibt. Daran schließt sich die Frage an: Reicht der derzeit vorhandene Handel allein aus, um diese Kunden von der Innenstadt zu begeistern? In früheren Jahrzehnten war der Handel die unangefochtene Nummer 1, die die Menschen in die Innenstadt zog. Heute ist das – wie übrigens in vielen Städten auch – nicht mehr der Fall. Erlebniswert lautet heute das Stichwort. Zwar trägt der Handel weiterhin einen wichtigen Teil hierzu bei. Immerhin nennen 60 Prozent der Innenstadtbesucher das Einkaufen als Hauptmotiv für ihren Besuch. Um aber ausreichend viel kaufkräftiges Publikum in die Innenstadt zu ziehen und somit auch hochwertige Neuansiedlungen zu ermöglichen, reicht die Strahlkraft des vorhandenen Innenstadthandels allein nicht mehr aus.

Das heißt, es muss mehr Veranstaltungen geben?

Seit vergangenen Freitag können die Kunden wieder ohne Corona-Test in Essen einkaufen gehen. Der Handel ist erleichtert über die Lockerungen.
Seit vergangenen Freitag können die Kunden wieder ohne Corona-Test in Essen einkaufen gehen. Der Handel ist erleichtert über die Lockerungen. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Auch. Man sieht bei Veranstaltungen wie den ‘Lichtwochen’ oder ‘Essen verwöhnt’, dass sie ein Publikum anziehen, das der Innenstadt ansonsten längst den Rücken gekehrt hat. Aber es braucht mehr als Veranstaltungen. Sie sind zu sporadisch. Mittlerweile geht es mehr um Fragen der Freizeitgestaltung. Gehe ich mit meiner Familie in den Zoo oder in die Innenstadt, weil ich mich da gerne aufhalte? Der Einkauf wird dabei auch in Zukunft wichtig sein, wird aber nur ein Aspekt von mehreren sein.

In der Innenstadt gibt es allerdings noch nicht einmal einen vernünftigen Spielplatz.

Die Verweilqualität ist der entscheidende Punkt. Wenn man Familien in der City haben will, dann muss man ihnen auch das Umfeld bieten. Ich kann mich noch gut an die Wasserbecken auf dem Kennedyplatz erinnern. Als Kind waren sie für mich ein Magnet. Man musste mich heulend rausziehen. Aber wir müssen auch an die Älteren denken. Auch die müssen sich in der Innenstadt wohlfühlen. Und da taucht immer wieder das Thema Toiletten auf.

Mehr Wohnen soll in die Innenstadt, mehr Gastronomie, mehr Freizeit. Der Einzelhandel dagegen ist auf dem Rückzug, auch weil Händler gar nicht mehr so viel Verkaufsfläche mieten wollen wie früher. Ist Essen, die Einkaufsstadt, endgültig Vergangenheit?

Natürlich wären mir Zeiten lieber, wo es das Event war, nach Essen in die Innenstadt zum Einkaufen zu fahren. Man darf aber vor Entwicklungen nicht die Augen verschließen. Das Verbraucherverhalten hat sich verändert. Handel allein reicht da nicht mehr. Dennoch ist mir nicht bange. Stationären Handel wird es weiterhin geben, aber er muss anders aufgestellt sein.

Die notwendigen Veränderungen in der Innenstadt werden nicht von heute auf morgen kommen. Hat eine angeschlagene City wie Essen überhaupt noch so viel Zeit?

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Ich bin da zuversichtlich. Es gibt schließlich auch sehr positive Signale: Ich denke da, an die Koerfer-Gruppe, die in den ehemaligen Kaufhof investiert. Oder den neuen Eigentümer der Rathaus-Galerie, der mit dem Umbau schon begonnen hat. Auch der Herrenausstatter Ansons ist mitten in der Pandemie wieder in die Innenstadt zurückgekehrt. Diese Beispiele zeigen doch: Es gibt Immobilienbesitzer und wertige Geschäfte, die an den Standort glauben.

Ein großes Sorgenkind ist die Limbecker Straße mit vielen Leerständen. Die Stadt will Läden dort anmieten und sie günstiger an möglichst innovative Händler oder Gastronomen weitervermieten. Funktioniert die Rettung einer solchen Einkaufsmeile nur noch mit staatlichen Eingriffen?

Ein freies Spiel der Kräfte ist das sicherlich nicht. Aber man sieht doch an der bisherigen Entwicklung was passiert, wenn man sie dem Markt überlässt. Wir haben mit dem Geld des Landes nun die Chance, frische und neue Konzepte in die Innenstadt zu bringen und somit vielleicht auch ein Publikum, das bislang noch nicht da ist. Alles einfach nur laufen zu lassen und zu hoffen, das wird zu wenig sein.

Wie wird sich der Handel selbst als Lehre aus der Pandemie verändern müssen?

Digitalisierung ist sicher das Riesenthema. Das heißt nicht, dass jeder Händler jetzt einen Internetshop aufmachen muss, um in Konkurrenz zu Amazon & Co zu treten. Wichtig ist aber zumindest eine digitale Sichtbarkeit. Händler müssen von ihren Kunden gefunden werden. Ein weiterer Punkt ist der Erlebniswert. Nur Waren zu verkaufen, das genügt nicht mehr. Wenn ich Produkte habe, die der Kunde auch online bekommt, dann muss ich als Händler eine Antwort darauf haben, warum der Kunde diese ausgerechnet bei mir im Laden kaufen soll. Gerade beim Thema Beratung hat das Internet Schwächen. Nicht jeder kann sich alles mit Bedienungsanleitungen selbst erarbeiten. Für die Kunden ist dann das Preisargument auch nicht das allein Entscheidende. Gute Beratung bedeutet aber auch Schulung von Mitarbeitern. Die Kunden sind heute so gut informiert wie nie zuvor.

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