Essener Norden. Essener wehren sich bei Neubauprojekten oft mit dem Klimaschutz-Argument. Stadtplaner Martin Harter erklärt, warum er sich Ehrlichkeit wünscht.

Zuletzt haben Essener Bürger oft Klimaschutzargumente angeführt, um Neubauprojekte zu verhindern. Am Loskamp soll auf der geplanten Fläche für eine Kita ein kleines Wäldchen erhalten bleiben, Anwohner kämpfen für die Feldwiese in Katernberg und im Stoppenberger Baugebiet Hallostraße/Im Natt kam es sogar zu einer Baumbesetzung. Im Interview erklärt Essens Bau- und Planungsdezernent Martin Harter, dass sich die mit den größten Ängsten und Sorgen meistens am lautesten artikulieren und warum er manchmal das Gefühl hat, die Klimaschutzgründe seien vorgeschoben.

Ist der Bürgerprotest bei Neubauprojekten heftiger geworden?

Die Bauvorhaben sind mit den Jahren komplexer und Bürgerinnen und Bürger kritischer und auch engagierter geworden. Themen wie Klimawandel und Mobilität und die zunehmende Verdichtung führen dazu, dass Stadtentwicklung mehr diskutiert werden muss.

Das Gesetz sieht vor, dass Bürger ins Planverfahren eingebunden werden. Verpasst es die Stadt, die Bürger ordentlich zu beteiligen?

Wir versuchen immer, so viele Menschen wie möglich an den Planungen zu beteiligen, um ein breitgefächertes Meinungsbild zu bekommen. Das Problem: es gibt viele verschiedene Interessenlagen – nicht alle können immer berücksichtigt werden. Und: die Betroffenheit ist vor Ort natürlich eine andere als am anderen Ende der Stadt. Verwaltung und Politik bekommen manchmal also nur einen Ausschnitt der Meinungen. Um das zu ändern bieten wir Formate wie Workshops, Onlinebeteiligungen und auch den Besuch bei Ausschusssitzungen an. Häufig ist die Beteiligung aber noch gering. Wir müssen uns fragen, wie wir alle aktiviert kriegen - Gegner und Befürworter.

Wäre es für Politik und Verwaltung einfacher, wenn die Bürger weniger Mitspracherecht hätten?

Einerseits werden insbesondere Planungsprozesse von Bauvorhaben durch den Bürgereinsatz langwieriger, andererseits leben davon die Demokratie und die Stadtentwicklung. Grundsätzlich finde ich es richtig, dass die Bürgerinnen und Bürger sich unmittelbar einmischen können. Wir planen schließlich für die Menschen - allerdings nicht nur für die, die in einem bestimmten Gebiet wohnen, sondern auch für jene, die dorthin ziehen.

Am Loskamp soll ein kleines Wäldchen für den Bau eines Kindergartens abgeholzt werden. Dagegen wehren sich einige Anwohner.
Am Loskamp soll ein kleines Wäldchen für den Bau eines Kindergartens abgeholzt werden. Dagegen wehren sich einige Anwohner. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Beispiel Loskamp: Dort soll ein kleiner Wald einem Kindergarten weichen. Anwohner argumentieren mit dem Klimaschutz und wollen den Wald erhalten. Ist der Klimaschutz ein Totschlagargument?

Es ist ein schlagkräftiges Argument. Wir sind eine waldarme Region und es lohnt sich, um jeden Baum zu ringen. Gleichzeitig gibt es junge Familien in der Stadt, die Familie und Beruf unter einen Hut bekommen möchten und auf die Kinderbetreuung angewiesen sind. Mir ist es aber wichtig, dass alle Argumente berücksichtigt werden: Im Baugebiet Hallostraße/Im Natt geht es um den Erhalt der alten Buche auf der einen Seite, aber eben auf der anderen Seite beispielsweise auch um den verwehrten Blick in die freie Natur. Es geht auch um die Notwendigkeit, Wohnraum zu schaffen oder eben - wie im Fall am Loskamp - auch um eine wohnortnahe Kinderbetreuung.

Mit subjektiven, egoistischen Argumenten sind die Bürger und Bürgerinnen vielleicht ehrlicher, machen sich aber gleichzeitig unbeliebt und können den Bebauungsplan dann doch nicht ändern. Das funktioniert mit Klimaschutzargumenten manchmal schon.

Es ist ja nicht verwerflich, sich den Blick auf die freie Landschaft erhalten zu wollen. Ich wünsche mir trotzdem mehr Offenheit, dann kann man auch besser Kompromisse erreichen.

Essens Bau- und Planungsdezernenten Martin Harter erklärt, dass im Norden nicht mehr viele Flächen versiegelt werden müssen.
Essens Bau- und Planungsdezernenten Martin Harter erklärt, dass im Norden nicht mehr viele Flächen versiegelt werden müssen. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Lassen Sie sich denn von spektakulären Aktionen wie einer Baumbesetzung beeindrucken?

Die Entscheidung über den Bebauungsplan wurde ja jetzt erstmal verschoben. Am Ende entscheidet der Rat und nicht die Verwaltung. Wenn der Rat sich beeindrucken lässt, dann folgen wir der Entscheidung.

Klimaschützer führen als Argument auch oft an, dass unversiegelte Flächen für Baugebiete genutzt werden. Gibt es im Norden nicht genügend versiegelte Gebiete, die bebaut werden könnten?

Genau das wollen wir beim Contilia-Grundstück, der Kutel-Fläche und auch beim Projekt Freiheit Emscher erreichen. Andere Flächen stellen sich oft als wirtschaftlich kompliziert dar oder bringen Altlasten mit sich. Da findet man dann kaum einen Investor. Grundsätzlich werden wir im Norden nicht mehr viele Flächen versiegeln müssen.

Eine Fläche, die noch versiegelt werden könnte, ist das Kanalufer in Altenessen. Dort träumen manche von einer Marina. Ist das demnach nicht nötig?

Die Marina in Altenessen will die Stadt weiterentwickeln, aber es braucht Ersatzpflanzungen für den Wald, die Entwässerung ist nicht geklärt und auch die Entsorgung der Altlasten steht auf der Agenda. Aber wir bleiben an dem Thema dran. Vielleicht wäre die andere Kanalufer-Seite auch eine Alternative für das Projekt. Hochwertige Wohnbebauung würde im Norden generell zu einer besseren Mischung sozialer Milieus führen und das wünschen wir uns.

Das mit dem Zuzug verschiedener Bevölkerungsschichten scheint im Norden bisher nicht ausreichend zu funktionieren. Woran liegt das?

Man kann in Altenessen nicht die gleichen Preise erzielen wie in Rüttenscheid, also müssen wir Einfluss auf die Eigentümer nehmen und Flächen erwerben. Das versuchen wir zum Beispiel bei dem Contilia-Grundstück in Stoppenberg, das wir im Konzern Stadt Essen kaufen und entwickeln wollen.

Zur Person

Martin Harter ist 50 Jahre alt und seit dem 1. Januar 2020 städtischer Beigeordneter für Stadtplanung und Bauen in Essen. Der studierte Raumplaner stammt aus dem Schwarzwald und lebt in Dortmund.

Vor seiner Wahl zum Planungsdezernenten der Stadt Essen war Harter fünf Jahre lang Stadtbaurat in Gelsenkirchen. Seine vorherigen beruflichen Stationen waren Gladbeck, Mülheim an der Ruhr, und Krefeld. Harter ist SPD-Mitglied und wurde auf Vorschlag seiner Partei zum städtischen Beigeordneten gewählt.

Wer kaufen will, braucht Kapital.

Das stimmt, aber wir müssen den Gesamtnutzen sehen. Wenn wir als Stadt solche Grundstücke entwickeln, erzielen wir im besten Fall eine stabile Bevölkerungsstruktur, Pendler ziehen dorthin, der Einkommensteueranteil steigt und wir haben weniger soziale Probleme im Stadtteil.

Für die sozialen Probleme im Norden wird die Stadt oft kritisiert. Warum wird sie dann nicht schnellstens tätig, kauft Grundstücke und sorgt so dafür, dass unterschiedliche Bevölkerungsschichten dorthin ziehen?

Die Verkaufsbereitschaft der Eigentümer muss da sein und die entsprechenden finanziellen Mittel auch, beides ist nicht immer gegeben.

Zum Abschluss ein Blick in die Zukunft: Glauben Sie, die 80-jährige Rotbuche im Baugebiet Hallostraße/Im Natt wird erhalten bleiben?

Ich glaube, dass dort gebaut wird, aber ich glaube auch, dass der Baum stehen bleibt.

Glauben Sie, dass es am Loskamp in Altenessen einen Kindergarten geben wird?

Ja, ich glaube, dass in diesem Fall der Bedarf an Kitaplätzen überwiegen wird.