Essens neuer Planungsdezernent Martin Harter über neue Chancen für den Wohnungsbau, den Umgang mit Anwohnerprotesten und sein Verhältnis zum Auto.
Essen.WAZ: Herr Harter, Ihr Vorgänger Hans-Jürgen Best hat seine Rolle wie folgt beschrieben: Er sei eine Art Anwalt der Stadt Essen, der versucht, alle Interessen unter einen Hut zu bringen. Würden Sie das so unterschreiben?
Martin Harter: Absolut. Ich denke schon, dass es darum geht, Kompromisse auszuloten. Nicht um des Kompromisses Willen, sondern um möglichst viele seiner Ziele durchzusetzen. Selbstverständlich hat man aber auch eine Idealvorstellung von Stadtentwicklung.
Die da wäre?
Dass Essen sich als das Herz des Ruhrgebiets etabliert. Gleichzeitig wäre es schön, wenn es uns gelänge, unsere hohe Wohnungsnachfrage zu befriedigen.
Wie und wo? Beim Bürgerforum „Wo wollen wir wohnen“ ist ja nicht viel rumgekommen.
Wir haben immerhin sieben Flächen definiert, wo wir Bautätigkeiten jetzt planerisch angehen können. Sicherlich hätte man sich vorstellen können, dass mehr dabei herauskommt. Aber dann greift das St.-Florians-Prinzip um sich: Baut bitte nicht vor meiner Haustür, sondern woanders.
Mit 210 Quadratkilometern ist Essen von der Fläche her relativ klein
Oberbürgermeister Thomas Kufen hat die „wachsende Stadt“ als politisches Ziel benannt. Muss Essen wachsen?
Essen wird wachsen und kann auch noch wachsen. Unabhängig davon, welche Ziele die Stadt sich gibt. Da ich die Entwicklung auch nicht für falsch halte, müssen wir uns Gedanken machen, wie und wo Essen wachsen kann. Von der Fläche her ist Essen mit 210 Quadratkilometern relativ klein. Das dokumentiert auch, warum hier besonders intensiv um jeden Quadratmeter gerungen wird.
Die Bevölkerungszahl ist zuletzt nur auf niedrigem Niveau gewachsen.
Das liegt auch am mangelnden Angebot. Ich glaube, die Stadt hätte bestimmt ein größeres Bevölkerungswachstum – gerade von Menschen, die in Essen arbeiten und hier einpendeln, wenn es ein größeres Angebot gäbe. Dass würde auch den Essenern mehr Freiheiten eröffnen, sich auf dem Wohnungsmarkt zu bewegen. Momentan ist das schwierig. Auch wegen der sehr hohen Preise, zumindest im Neubaubereich.
Was entgegnen Sie Bürgern, denen der Schutz von Grün- und Freiflächen besonders wichtig ist?
Man muss das im Einzelfall betrachten. Man sollte aber nicht vergessen, dass Stadtentwicklung immer auch Veränderung bedeutet,. Offensichtlich ist der Wunsch nach Veränderung in der näheren Nachbarschaft nicht sehr stark ausgeprägt. Das ist einerseits ein schönes Zeichen. Die Leute sagen, ich fühle mich hier wohl und zwar so, wie es hier ist. Anderseits lehnt man Veränderungen ab. Damit sorgt man auch dafür, dass sich Quartiere nicht weiterentwickeln. Das muss man kritisch mit den Bewohnern hinterfragen. Wie sieht ein Quartier in zehn oder zwanzig Jahren aus? Was bedeutet das für die Kinder und Enkelkinder? Vielleicht müssen wir aber einfach mehr Phantasie in die zukünftige Entwicklung legen.
In Rüttenscheid galt über Jahre ein Baustopp
Wo sehen Sie noch Potenzial?
Ich sehe durchaus Potenzial in die Höhe zu wachsen. Damit meine ich jetzt nicht eine Hochhauslandschaft in der Stadt. Ob man sich in Stadtteilzentren und in vorhandenen städtischen Lagen aber zu viele Gebäude erlauben sollte, die nur zwei Geschosse haben, das ist schon die Frage. Unter urbaner Stadtentwicklung würde ich mir schon eher vorstellen, dass man Quartiere entwickelt, die vier, fünf Geschosse oder sechs Geschosse haben. Das ist schwierig im Bestand, sonst wären viele Gebäude schon aufgestockt. Doch bei Neubaumaßnahmen, wenn wir Flächen entwickeln, muss man eine gewisse städtebauliche Dichte vorsehen.
Auch innerstädtisch ist es manchem bereits des Guten zu viel. Zum Beispiel in Rüttenscheid.
Diese Befürchtungen gibt es. Ich glaube, dass Rüttenscheid die aktuellen Baugebietsentwicklungen nicht nur vertragen kann, sondern dass sie dem Stadtteil auch gut tun. In Rüttenscheid sind über Jahre hinweg ja kaum neue Wohnungen gebaut wurden. Das hatte rechtliche Gründe…
…die lange ungelöste Frage der Entwässerung.
Dadurch gab es einen Nachholbedarf, der jetzt den Eindruck erweckt, es ginge so weiter. Ich denke, das wird sich wieder normalisieren.
Viele machen sich Sorgen um das Klima und warnen davor, dass sich die Stadt durch noch mehr Bebauung weiter aufheizt.
Da sind wir wieder bei der Frage: Trauen wir uns, in die Höhe zu wachsen? Müssen wir uns im Sinne der Klimaanpassung auch Gedanken machen, Straßenräume möglicherweise enger zu gestalten, damit wir mehr Schatten generieren? Da gibt es viele Richtungen, in die man denken kann in einer bebauten Stadt. Wir müssen uns auch fragen, inwiefern es sinnvoll ist, im Innenbereich eine Freifläche zu belassen oder eine neue zu schaffen.
Um Wien nachzueifern, fehlt es der Stadt Essen an Geld und an Grundstücken
Sie waren zu Gast beim Bund Deutscher Architekten. Dort haben Sie den Gedanken aufgeworfen, die Stadt sollte Grundstücke erwerben, um Wohnungen zu bauen.
Es ging um die Frage, wie kann man stärker Einfluss nehmen auf die Stadtentwicklung, insbesondere auf die Schaffung von preisgünstigem Wohnraum? Ich habe das Beispiel Wien genannt. Auf Essen übertragen hieße das, dass wir für 150 bis 200 Millionen Euro jährlich städtische Wohnungen schaffen müssten. Das ist unrealistisch, auch weil wir dafür gar nicht die Grundstücke hätten.
Es fehlen ja nicht nur Flächen für den Wohnungsbau, sondern auch für Gewerbebetriebe.
Glücklicherweise gibt es das Großprojekt „Freiheit Emscher“, wo neue Gewerbegebiete erschlossen werden sollen. Das ist nichts für morgen, aber für übermorgen. Da sind wir in Kooperation mit der Stadt Bottrop auf einem guten Weg. So etwas könnte man durchaus auch mit anderen Städten in ähnlicher Form betreiben. Ansonsten ist es schwierig. Ich habe mir deshalb auch auf die Fahnen geschrieben, noch enger mit der Wirtschaftsförderung zusammenzuarbeiten. Wir werden die Flächen nicht vermehren können ohne weiteres, aber es ist sicher gut, wenn wir in einem engen Austausch stehen und mit stadtplanerischen Mitteln auch Wirtschaftsförderung betreiben.
Es gibt eine Fläche, die Platz für Wohnungen und Gewerbe bietet; den Flughafen. Nun hat Mülheim offenbar andere Pläne.
Das mag sein. Beide Städte haben dennoch vereinbart, auf der Basis bestehender Beschlüsse weiterzuarbeiten. Ich gehe aber davon aus, dass wir darüber diskutieren, ob die Zielsetzung – ein Drittel Wohnen, ein Drittel Grün, ein Drittel Gewerbe – Bestand haben soll.
Viele innerstädtische Straßen sind an der Belastungsgrenze
Sie wohnen in Dortmund. Wie kommen Sie zur Arbeit?
Harter: Mit dem Fahrrad und mit dem Regionalexpress.
Sie verzichten bewusst aufs Auto?
Es macht ja auch keinen Spaß über die A40 zu fahren. Ich bin insofern bewusst aufs Fahrrad und die Bahn umgestiegen. Aber ich bin keiner, der es aus ideologischen Gründen ablehnt, mit dem Auto zu fahren.
Auch viele innerstädtische Straßen scheinen an der Belastungsgrenze angelangt.
Dass der Verkehr zunimmt, ist dem Bedürfnis nach Mobilität geschuldet. Die Frage ist, wie man diese Wege zurücklegt. Es ist für einen Stadtraum natürlich verträglicher, wenn die Leute zu Fuß gehen, häufiger das Fahrrad nutzen oder auf den ÖPNV umsteigen. Dafür braucht man attraktive Angebote. Die Stadt hat sich ja auf den Weg gemacht, um das Radfahren und den öffentlichen Nahverkehr attraktiver zu machen. Ich glaube, wir können noch besser werden bei den Fußgängern. Im Moment ist es so, wenn wir dem Radfahrer mehr Platz einräumen, geht das zulasten der Fußgänger. Vielleicht muss man eher anderen etwas wegnehmen.
Zur Person
Martin Harter ist 49 Jahre alt, verheiratet und Vater von zwei Kindern. Der studierte Raumplaner stammt aus dem Schwarzwald und lebt in Dortmund. Vor seiner Wahl zum Planungsdezernenten der Stadt Essen war Harter fünf Jahre lang Stadtbaurat in Gelsenkirchen. Seine vorherigen beruflichen Stationen waren Gladbeck, Mülheim an der Ruhr, und Krefeld.
Die Stadt Essen ist Martin Harter nicht fremd. Seine erste, damals befristete Anstellung fand er 2001 im Stadtplanungsamt, wo er zwei Jahre lang am damaligen Wohnungsbauprogramm der Stadt mitarbeitete. Martin Harter ist SPD-Mitglied und wurde auf Vorschlag seiner Partei zum städtischen Beigeordneten gewählt.
Also den Autofahrern?
Wie bei der Umweltspur. Was wo die richtige Lösung ist, muss man sehen. Wir brauchen sicher ein attraktives Alltagsroutennetz für Fahrradfahrer. Beim ÖPNV müssen wir attraktive Takte aufrechterhalten.
Einigen geht es nicht schnell genug mit der Verkehrswende. Fehlt es an Mut?
Da sind wir wieder bei der Ausgangsthese von Hans-Jürgen Best: Die Stadt muss einen Interessenausgleich organisieren. An der ein oder anderen Stelle wäre es sicher wünschenswert schneller voranzukommen. Aber es hilft nicht, einseitig Tempo zu machen. Dann erreiche ich schlimmstenfalls gar nichts.
Manche sehen im Ausbau der A52 eine Lösung. Fluch oder Segen?
Wenn man es gut macht, kann es ein Segen sein. Voraussetzung dafür wäre, dass man auch Binnenverkehre auf dieser Trasse abwickelt. Das könnte zu einer Entlastung beispielsweise der Gladbecker Straße führen.
Was heißt „gut macht“?
Eine A52 in offener Lage wäre sicher nicht gut gemacht. Überhaupt sollten wir immer wieder darüber nachdenken, ob es realistisch ist, auch die bestehenden Autobahnen zu überdeckeln.
Für die A40 zwischen Frohnhausen und Holsterhausen ist das der erklärte Wunsch.
Es gibt den Auftrag an die Verwaltung, das zu prüfen. Das haben wir auf den Weg gebracht. Das muss man jetzt technisch ausloten und dann mit einer Kostenkalkulationen hinterlegen, damit man weiß, worüber man redet.
Das Gespräch führte Marcus Schymiczek