Duisburg. Das Novemberpogrom traf die Juden in Duisburg völlig überraschend: Gewaltexzesse, Plünderungen, Synagogen in Brand gesetzt, Festnahmen. Anlass war Attentat auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath in Paris, der aus Duisburg stammt. Historiker Ludger Heid über die Ereignisse am 9. November 1938.
10. November 1938, 1 Uhr: Aus dem Bericht des Duisburger Polizeipräsidenten an den Regierungspräsidenten in Düsseldorf: „Demonstrationen gegen Juden sind in dieser Nacht zu erwarten. Gefährdung deutschen Lebens und Eigentums sowie Plünderungen müssen verhindert werden!“ Die Ordnungspolizei trifft entsprechende Maßnahmen: Alarmierung des Einsatzzuges der Hundertschaft; Einsatz von Posten in der Umgebung der brennenden Synagoge, um die Ausbreitung des Feuers zu verhindern.
Die Flammen schlagen lichterloh aus den Synagogenfenstern an der Junkernstraße, weithin sichtbar. Schaulustige strömen in dieser Nacht aus der Nachbarschaft zusammen. Über die Gefühle der Augenzeugen angesichts der Flammen ist nichts bekannt. Auch nicht, ob die Bevölkerung Zustimmung und Ablehnung äußerte. Doch jeder, der Zeuge dieser Tat wurde, wusste, dass es Brandstiftung war. Ein vorsätzliches Zerstörungswerk inszeniert mit Brechstangen, Äxten und anderer Gerätschaft.
Nichts war vor Brandstiftern sicher
Es war ein Pogrom, der die Duisburger Juden völlig überraschend traf. Vorausgegangen war ein Attentat eines verzweifelten polnischen Jugendlichen drei Tage zuvor auf den Ernst vom Rath in der deutschen Botschaft in Paris, dessen Familie ursprünglich aus Duisburg stammt. Der Attentäter wollte auf das Schicksal der verfolgten Juden aufmerksam machen und erreichte doch nur, dass die Judenverfolgungen noch schlimmer wurden. Nachdem vom Rath seinen Schussverletzungen am 9. November 1938 erlegen war, gab Propagandaminister Goebbels das Zeichen zum Losschlagen: Im gesamten „Großdeutschen Reich“ sollten die jüdischen Gotteshäuser in Brand gesetzt werden und jüdisches Eigentum zerstört werden – ohne Rücksicht auf Menschenleben.
In seiner Wohnung in der Fuldastraße 1 konnte Rabbiner Manass Neumark den Synagogenbrand geradezu hautnah verfolgen, konnte das Klirren, das Splittern des zerbrechenden Glases der Synagogenfenster hören. Von seiner Wohnung bis zur Synagoge waren es gerade einmal 100 Schritte. Nichts, nicht einmal die heiligen Thorarollen, vermochte er vor den Brandstiftern zu schützen.
In „Schutzhaft“ genommen
Seine Wohnung wird in jener Nacht selbst von den Nazi-Vandalen heimgesucht. Eine Wohnung im gutbürgerlichen Wasserviertel. Er, das geistliche Oberhaupt einer einstmals blühenden Gemeinde, eine gelehrte Autorität in der Stadt, muss dem entfesselten braunen Mob ohnmächtig zusehen. Er selbst wird in „Schutzhaft“ genommen, wie die Nazis des Rabbiners Verhaftung und Internierung beschönigend bezeichnen.
Der Straßenbahnfahrer Paul Blümke sagte Folgendes aus: „Am Vormittag nach der sog. Kristallnacht gegen 8 Uhr kehrte ich vom Dienst zurück. Auf dem Weg nach dort hatte ich schon beobachtet, dass Wohnungen von Juden und deren Einrichtungen verunstaltet worden waren. Im Haus Gutenbergstr. 18 wohnten in der ersten Etage die Gebrüder Mandel. Diese Wohnung war offensichtlich von Nationalsozialisten zerstört worden, denn vor dem Hause lagen Bettzeug und Möbel. Diese Möbel waren vermutlich durch das Fenster geworfen worden. Ich habe weiter beobachtet, dass ein Lastkraftwagen mehrmals über die auf der Straße liegenden Sachen fuhr, um sie noch mehr zu verunstalten“.
Synagoge musste aus Sicherheitsgründen niedergelegt werden
Über die Ereignisse hieß es in der Duisburger „Nationalzeitung“ zynisch: „Übrigens wurde in den frühen Morgenstunden die Feuerlöschpolizei zur Synagoge bestellt, wo Flammen- und Rauchbildungen in dem Mauerwerk auf Brand schließen ließen, so dass die umliegenden Häuser vor Schaden bewahrt werden mussten. Um die Mittagszeit war die Löscharbeit beendet, ebenso die Aufräumarbeiten in den Straßen, wo die Arbeitskameraden vom Städtischen Fuhrpark im Interesse des freien Publikums die Trümmer und Scherben zurück in die offenstehenden Judenläden beförderten.“
Durch die Brandstiftung war die Synagoge in der Junkernstraße derart in Mitleidenschaft gezogen, dass die Stabilität des Gebäudes nicht mehr gewährleistet war. Der Oberbürgermeister forderte die Jüdische Gemeinde am 17. November 1938 auf, das Bauwerk binnen drei Tagen niederzulegen. Dem konnte allerdings nicht Folge geleistet werden, da der Gemeindevorsitzende Dr. Sally Kaufmann im KZ Dachau inhaftiert war und andere Verantwortliche auch nicht mehr zu erreichen waren.
Viele sahen einfach nur zu
Über die Brandstiftung an der Hamborner Synagoge liegt ein kurzer Augenzeugenbericht vor. Hilde und Luise Gatermann beobachteten aus ihrem neben der Synagoge in Marxloh liegenden Haus, was geschah: „In den frühen Morgenstunden des 10. November 1938 verlegten Feuerwehrleute Wasserschläuche zwischen der Synagoge und den Nachbarhäusern.
Ein Feuerwehrwagen und die Feuerwehrleute blieben auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen und taten weiter nichts. Einige Zeit später wurde die Tür zur Synagoge von einigen Männern, von denen einige SS- oder andere SA-Uniformen trugen, aufgebrochen. Ein Feuer, das sie zu legen versuchten, kam nicht in Gang. Daraufhin holten sie in der Drogerie unseres Bruders nebenan Benzin und Petroleum, mit dem sie das Haus erneut ansteckten. Den dadurch entstehenden Brand löschte die Feuerwehr nicht, sondern sie achtete nur darauf, dass die Flammen nicht auf die Nachbarhäuser übergriffen. Dazu waren wohl vorsorglich Schläuche gelegt worden. Zahlreiche Menschen, auch ganze Schulklassen, sahen dem Feuer zu“.
Es gibt einen Bericht über den Pogromablauf, der hervorhebt, dass die Täter nicht aus Duisburg stammten, sondern aus Dortmund kamen. Dahinter stand, keine Mitleidsgefühle aufkommen zu lassen, falls sich die Aktion zufällig gegen persönlich Bekannte richten sollte.
Unbändige Zerstörungswut bei den Nazis
Die Horden standen stark unter Alkoholeinfluss. Dies gehörte zum Kalkül der Organisatoren, um die Akteure in Pogromstimmung zu bringen. Auf der einstündigen Fahrt zum Aktionsgebiet wurde reichlich Freibier und Schnaps ausgeschenkt. Die Täter waren ganz offensichtlich im Besitz von sorgfältig angefertigten Adresslisten: Groß-Duisburg war nach genau eingeteilten Distrikten für jede Pogrom-Kolonne vorbereitet.
Nicht nur Männer, sondern auch Frauen und schreiende Kinder sind von den Nazis misshandelt und im Nachthemd ins Freie gejagt worden. Was zerstörbar war, wurde vernichtet. Wäsche, Kleider und Anzüge zerfetzt, eingebaute Waschtische und Badewannen wurden mit Hämmern zertrümmert, selbst Wandbekleidungen und Linoleum-Belag wurde demoliert.
Keine Information über verhaftete Männer
Ohne Rücksicht auf Altersgrenzen wurden alle männlichen Personen festgenommen. Die Verhafteten wurden zunächst ins Polizeigefängnis gebracht und am 12. November 1938 mit unbekanntem Ziel abtransportiert. Am 22. November 1938, also zehn Tage später, hatten die Frauen noch keine Nachricht, wo sich ihre Männer befanden.
In Ruhrort und Hamborn wurden jeweils die Synagogen abgebrannt, die Wohnungseinrichtung des Kultusbeamten Friedrich Kaiser sowie das Sitzungszimmer der jüdischen Gemeinde in der Landwehrstraße 21 zerstört. In der gesamten Stadt wurden ungezählten Wohnungen von jüdischen Bürgern verwüstet, Juden misshandelt.
Suizid an Silvester
Durch die Exzesse ruiniert schied das Ehepaar Cohnen, wohnhaft in der Wanheimer Straße, aus Verzweiflung aus dem Leben. Sie hatten ihre wertvolle Kunstsammlung dem Niederrheinischen Museum zur Verfügung stellen müssen, die im Wohnungsflur zum Abtransport bereitstand, als am 10. November 1938 ein Nazi Rollkommando in ihre Wohnung eindrang und alles kurz und klein schlug – auch die beschlagnahmten Kunstgegenstände, die eigentlich befehlsgemäß hätten geschont werden sollen.
Als schließlich am 27. Dezember 1938 die wenigen unbeschädigten Kunstgegenstände in der Wohnung abgeholt wurden, um sie dem Museum „zu treuen Händen“ einzuverleiben, nahm sich das Ehepaar vier Tage später, am Silvestertag, das Leben. Das Museum fertigte einen Inventarisierungsvermerk, dass die geraubten Wertsachen „katastrophale Beschädigungen“ aufwiesen. Eine zutreffende Beschreibung. Das, was von der Sammlung als Raubgut ins Museum gelangte, wurde dann im Krieg in einem Auslagerungsdepot am Niederrhein zerstört.