Duisburg.

Zum 75. Mal jährt sich in diesen Tagen die Pogromnacht von 1938. Das Gedenken, so scheint es, fällt besonders opulent aus, viele Veranstaltungen im ganzen Land fallen größer aus. „Doch bedeutet diese Zahl, dass es eine besondere oder hervorgehobene Wiederkehr dieses Tages geben könnte?“, fragte gestern Dr. Jobst Paul im großen Sitzungssaal. Bei der Gedenkveranstaltung im Rathaus blickte der wissenschaftliche Leiter des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS) viel weiter zurück als 75 Jahre.

Ein solcher Tag, so Paul, fordere „besonders dazu heraus, die Inhalte von Gedenken und Erinnerung erneut zu bestimmen“. Die sogenannten Pogromnacht habe zwei Tage und Nächte gedauert. Paul erinnerte an das Inferno des Brandes, das Klirren von Scheiben, das Zersplittern von Möbeln auf den Straßen der Stadt, die Trupps in Duisburg, Ruhrort und Hamborn und nicht zuletzt an die vielen Zeugen, die Bürgerinnen und Bürger. Doch 1938 „war die Entrechtung, der Entzug der Existenzgrundlagen der deutschen Juden schon fünf Jahre lang im Gang“, erklärte Paul. Und schon 30 Jahre zuvor, als Rabbiner Manass Neumark in Duisburg sein Amt antrat, sei in den jüdischen Gemeinden und Vereinen besorgt diskutiert worden. Um 1900 sei die Wahnvorstellung vom „Ritualmord“ an Christen noch verbreitet gewesen; nach dem Börsenkrach 1873 habe man die Schuld bei „den Juden“ gesucht; seit 1804 sei es – „losgetreten von Literaten, Kirchenvertretern oder Staatsbeamten“ – regelmäßig zu Hetzkampagnen gekommen.

Antisemitismus durch Lügen und Unkenntnis

„All dies ist unserer Erinnerungsarbeit anheim gegeben: die tief eingeschriebene Judenfeindschaft in der Mitte der deutschen Gesellschaft – über einen Zeitraum von eineinhalb Jahrhunderten vor der Pogromnacht 1938, vor der Shoah. Von Mittelalter, Reformation und Gegenreformation ganz zu schweigen“, erklärte Paul.

Eine Antwort auf die Frage, wie man das unermessliche Unrecht Menschen habe antun können, sei von deutschen Juden schon im 19. Jahrhundert zu Papier gebracht worden: „Nur dort, wo Lügen über das Judentum eine Chance haben, weil die Unkenntnis des Judentums kultiviert und die Kenntnis des Judentums diskreditiert wird, sind Judenfeindschaft und Antisemitismus möglich – oder sogar programmiert.“

Jobst Paul betonte, dass es hierzulande keine Identität geben könne, die nicht durch die Verantwortung für die Vergangenheit geprägt bliebe. Doch ebenfalls sei zu bedenken: „Wir können der Verantwortung für die Vergangenheit gar nicht gerecht werden, wenn wir uns nicht zur eigenen Identität bekennen“, führte Paul aus. „Das heißt – übrigens für Christen und Muslime – zu einer im Judentum wurzelnden Identität.“