Duisburg/Mülheim/Mönchengladbach/Oberhausen. Ex-Mitglied der Rocker aus Mülheim sagt über sein Verhältnis zum Kronzeugen aus. Nach seinem Ausstieg wurden sein Haus und sein Auto beschossen.

Es ist eine bittere Ironie des Schicksals. Bis zum 10. Januar 2024 hat die Fünfte Große Strafkammer des Landgerichts Duisburg im Mordfall Kai M. noch Termine in dem Mammut-Prozess angesetzt. Sollte an diesem Tag ein Urteil fallen, fiele es auf den zehnten Todestag des Hells Angels, der mit gerade 32 Jahren gewaltsam starb. Der Duisburger Kai M. wurde in der Nacht vom 9. auf den 10. Januar 2014 kurz nach Mitternacht in Mönchengladbach erschossen, mutmaßlich von Mitgliedern seines eigenen Clubs. Eine Ende des Prozesses ist in weiter Ferne.

Verhandlungstag 64 beginnt am Freitag mit einer Überraschung: Als Zeuge geladen ist Kadir Y., inzwischen 36 Jahre alt. Der Mülheimer ist der einzige aus der Riege der aktuellen oder ehemaligen Beschuldigten, der sich Fragen stellt. Schon vor seiner Vernehmung wird klar: Wer Kai M. erschoss, war in der Szene mehr als nur ein offenes Geheimnis.

Ex-Rocker sprach mit Polizisten aus Mülheim über den Fall

Wie erst jetzt mehr oder weniger zufällig bekannt wird, hat sich Y. schon im Frühjahr 2019 mit Beamten des Präsidiums (PP) Essen/Mülheim über den Fall unterhalten, da hatte der so wichtige Kronzeuge Ramadan I. noch gar nicht bei den Behörden ausgepackt.

Kadir Y. war bei den Hells Angels ausgestiegen und daraufhin massiv bedroht worden. Schüsse fielen auf sein Haus und auf sein Auto. Die Polizei fuhr verstärkt Streife, sie begann, sein Telefon abzuhören. Am 23. März 2019 spricht Y. am Telefon mit I., dem Kronzeugen. Der Mönchengladbacher schildert seinem Kumpan die Einzelheiten des Mordes an Kai M. in allen Details, inklusive der späteren Zerteilung und Beseitigung des Leichnams. Dass eine israelische Uzi benutzt worden sein soll. Wer abdrückte und wer half. Wie die Täter danach den späteren Kronzeugen ins Boot holten. Wie die Rocker die Leichenteile in Beton gegossen und wo sie diese entsorgt haben.

Zwei Tage darauf sitzen zwei Polizisten des PP Essen bei Y. in der Wohnung, und der berichtet von dem Gespräch. Da klingelt es erneut, der Mülheimer stellt das Telefon laut. Und nun gibt es weitere detaillierte Informationen: Der bis heute gesuchte Ramin Yektaparast soll für die tödlichen Schüsse eine Belohnung von 40.000 Euro von einer Hells-Angels-Größe aus Duisburg erhalten haben – das Verfahren gegen diesen Mann war zwar später aufgenommen worden, ist aber inzwischen eingestellt.

Weitere 25.000 Dollar seien später an Yektaparast in der Türkei ausgezahlt worden, erzählte I. weiter, während die Polizisten mithörten. Eine weitere Milieu-Persönlichkeit aus dem westlichen Ruhrgebiet habe einen Teil der Prämie beigesteuert. Die Hells Angels hatten in Kai M. einen Verräter vermutet.

Zahlte Düsseldorfer Bordell-Chef Prämie für Aussage?

Offen ist weiter, wie in der Nachbereitung des Falls die Rolle eines Mannes war, der in Düsseldorf ein Großbordell betrieben hatte. Y. hatte dort zeitweilig gearbeitet. I. habe erzählt, dass der Bordell-Chef ihm eine Prämie für eine Aussage gegen die Hells Angels versprochen habe, mit denen er im Clinch lag, berichtet der Mülheimer.

Was weiß Kadir Y. noch und was will er erzählen, ohne sich selbst zu belasten? „Keine Ahnung.“ – „Das ist schon so lange her.“ – „Ich bin mir da nicht mehr sicher.“ – „Könnte sein.“ Sätze wie diese fallen häufiger. Manchmal sagt er auch: „Wenn Sie das schwarz auf weiß haben, dann muss das so sein.“ Oder: „Es gibt so viele Storys, da kann man sich nicht an alle erinnern.“ Vieles basiert auf Hörensagen.

Zeuge: „Kronzeuge hat sogar sich selbst gehasst“

Das Verhältnis zwischen ihm und I. muss einmal ein inniges gewesen sein, das später abkühlte und inzwischen erkaltet ist. 2019 habe es den letzten Kontakt gegeben, sagt Y. am Freitag. Der Mülheimer spricht nicht gut über den Kronzeugen: Er nennt ihn einen „Geisteskranken“, wankelmütig, der regelmäßig die Unwahrheit gesagt, seine Meinung ständig geändert und Y. beleidigt und schlecht über ihn gesprochen habe: „Der I. hat jeden gehasst, der hat den Ramin gehasst, der hat seinen Bruder gehasst und ich glaube, der hat sich sogar selbst gehasst.“

Im Saal sind noch bewaffnete Polizeibeamte präsent. Vor dem Landgericht am König-Heinrich-Platz ist ein Prozess-Termin im Rocker-Prozess kaum noch wahrzunehmen.
Im Saal sind noch bewaffnete Polizeibeamte präsent. Vor dem Landgericht am König-Heinrich-Platz ist ein Prozess-Termin im Rocker-Prozess kaum noch wahrzunehmen. © FUNKE Foto Services (Archiv) | Lars Fröhlich

Die Rocker hätten gewusst, dass sie von der Polizei abgehört würden, erzählt der Mülheimer. Sprecht deutsch, hätten ihnen andere aus der Szene mitgegeben, auch der Bordell-Chef aus Düsseldorf. Y. liefert dem Gericht einen verblüffenden Grund: „Das ist günstiger für den Staat. Da brauchen Sie keine Übersetzer.“ Möglicherweise seien manche Aussagen auch im Bewusstsein gemacht worden, dass man abgehört wird, räumt Y. ein.

Von sechs Angeklagten sind noch zwei übrig

Der Mülheimer saß zum Prozessbeginn noch selbst auf der Anklagebank, auch wenn er mit dem Mord an Kai M. wohl gar nichts zu tun hatte. Stattdessen stand er im Verdacht, in eine beinahe tödliche Attacke auf ein führendes Mitglied der Bandidos in Oberhausen im November 2013 verwickelt gewesen zu sein. Mangels eindeutiger Beweise war Y. schon vor Monaten als erster von ursprünglich sechs Angeklagten freigesprochen worden.

Dort sitzen nun nur noch zwei Männer: der, der dem flüchtigen Ramin Yektaparast in Mönchengladbach die Waffe für die tödlichen Schüsse auf Kai M. gereicht und bei der Attacke auf den Bandido im vorderen Wagen der Hells Angels gesessen haben soll, und der, der den Leichnam des Ermordeten zerteilt haben soll. Der mutmaßliche Schütze der Tat in Oberhausen ist ebenfalls weiter auf der Flucht.

Rückblick: Im April 2014 suchen Polizeitaucher im Rheinpreußen-Hafen in Duisburg-Homberg nach Leichenteilen des damals noch vermissten Kai M. aus Duisburg.
Rückblick: Im April 2014 suchen Polizeitaucher im Rheinpreußen-Hafen in Duisburg-Homberg nach Leichenteilen des damals noch vermissten Kai M. aus Duisburg. © WAZ FotoPool (Archiv) | Stephan Eickershoff

Y. hatte in 15 Monaten U-Haft auch genügend Zeit, sämtliche Protokolle aus der Telefonüberwachung durchzulesen. Auch das habe sein Verhältnis zum Kronzeugen weiter eingetrübt, erzählt er. Der Mülheimer wird noch an weiteren Tagen vor dem Landgericht erscheinen müssen. Bis zur Mittagspause am Freitag war gerade die Befragung zu einem Viertel der 199 Seiten Protokolle zur Telefonüberwachung abgearbeitet.

Ob das Gericht nach dem 64. Verhandlungstag wirklich noch 20 weitere bis Januar für einen Abschluss benötigt, ist offen. Erstmal ist es wegen der Vielzahl von Verfahrensbeteiligten – dazu gehört auch die Mutter von Kai M. als Nebenklägerin – nur ein Puffer, sagt ein Gerichtssprecher. Der Prozess hat im Juli des vergangenen Jahres begonnen. Die beiden verbliebenen Angeklagten sitzen seit einer Großrazzia gegen die Hells Angels im September 2021 in U-Haft.