Duisburg. Vor einem Jahr zog Lamya Kaddor für die Grünen in den Bundestag ein. Was sie für Duisburg bewirkt hat und wie sich ihr Leben verändert hat.
Schlank ist Lamya Kaddor geworden. Ein Jahr im Berliner Bundestag hat sichtbare Spuren hinterlassen. Frisch gewählt, legte die Duisburger Bundestagsabgeordnete für ihre Partei Bündnis 90/Die Grünen vor einem Jahr gleich den Turbo ein, führte die Koalitionsgespräche mit, wurde innen- und religionspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion und Berichterstatterin für den Nahen und Mittleren Osten.
Wir treffen uns im neuen Duisburger Wahlkreisbüro. Die 44-Jährige hat die Haare kürzer, dunkler, trägt ein blaues Sakko, auf dem Handy trudeln Nachrichten der kranken Tochter ein. Ihr Tee wird schnell kalt, zu viel ist zu erzählen, keine Zeit zum Trinken.
Ist das die neue Berufskleidung?
Ich hätte nicht gedacht, dass Äußerlichkeiten so eine große Rolle spielen. Ich werde oft auf mein Aussehen angesprochen. Mein Kleidungsstil hat sich geändert, orientalisch bunte Sachen trage ich auch noch, aber ich falle auch so schon genug auf.
Wie anders ist ihr Leben seit der Bundestagswahl 2021?
Die Arbeit im Berliner Bundestag hat eine Sogwirkung. Die Uni- und die Schulwelt, in der ich vorher gearbeitet habe, ist durchlässiger. In Berlin tauche ich sonntagsabends ein, wenn ich mit dem Zug hinfahre, und bestenfalls komme ich freitagsabends aus dem Sog wieder raus. Früher war ich schon durchgetaktet, jetzt muss aber auch mein Mittagessen im Kalender stehen, sonst komme ich nicht dazu. Und oft genug sitzt dann jemand zum Gespräch dabei. In meinen 16-Stunden-Tagen springe ich sehr durch die Themen, durch die Aufgaben. Inzwischen kenne ich die Abläufe, die Personen – und ich kenne meine Grenzen.
Wo sind die?
Im Wahlkreis mache ich keine 16-Stunden-Tage, auch zwölf Stunden sind hier eigentlich zu viel. Ich scheue keine Arbeit, aber der Kalender ist zu voll, da reicht ein Tag manchmal nicht, um abzuschalten. Ich möchte am Samstag beim Fußballspiel meines Sohnes zuschauen, meine Tochter zum Reiten fahren, sie zum Friseur begleiten oder zum Zahnarzt. Zeit für mich gibt es eigentlich nicht, auch Paar-Zeit muss gepflegt werden. Aber das kennt jede berufstätige Mutter.
„Mein bisheriges Leben habe ich komplett geopfert“
Wie sieht Ihre Arbeit derzeit aus?
Ich bin in der Regel zwei Wochen in Berlin und zwei Wochen in Duisburg. Der September nach der Sommerpause ist mit drei Sitzungswochen besonders hart. Trotzdem komme ich jedes Wochenende, auch wenn ich manchmal keine 48 Stunden da bin. Aber selbst auf der Couch werde ich manchmal unruhig, weil ich das Gefühl habe, noch was tun zu müssen.
Wie läuft es zuhause, wenn Sie in Berlin sind?
Wenn ich nicht da bin, ist mein Mann allein für die Kinder da. In wenigen Fällen müssen sie aber auch mal einen Tag allein aufstehen, weil der Papa im Nachtdienst ist. Ich rufe dann um halb sieben in Duisburg an, wecke die Kinder, um sieben rufen sie dann noch mal an, dann sprechen wir beim Frühstück per Video. Ich bin dicht dran, eine Mutter mit Leib und Seele.
Und wie geht es Ihren Kindern mit der Mama in Berlin?
Ich bin schon früher, wenn ich zu Lesungen gereist bin, viel unterwegs gewesen. Öfters kam meine Familie dann einfach mit. Auch jetzt kommen sie hin und wieder nach Berlin. Inzwischen bin ich zwar etwas häufiger weg, aber sie werden ja auch älter. Trotzdem bin ich für beide mit dem Handy erreichbar. Anrufen geht nicht immer, aber schreiben. Ich führe kein Parallelleben in Berlin wie andere Abgeordnete, die in diesem Tunnel bleiben wollen. Manchmal bin ich einsam, wenn ich in Berlin bin, aber das nehme ich in Kauf.
War es eine gute Idee, sich zur Wahl gestellt zu haben?
Ich bin ein spiritueller Mensch. Alles, was passiert, hat einen Grund. Vieles läuft dumm, auch in meinem Leben, daraus sollte man seine Lehren ziehen. Mein bisheriges Berufsleben habe ich komplett geopfert: Ich kann nicht mehr unterrichten, nicht mehr forschen, keine Kolumnen schreiben. Aber ich will auch was vom Leben und nehme die Herausforderung mit Sportsgeist. Und solange mir das Spaß macht und ich das Gefühl habe, dass es sinnstiftend ist, mache ich das. Wenn ich mich nicht mehr damit identifizieren kann, höre ich sofort auf. Aber ich bereue nichts, dafür ist es viel zu spannend.
Gespräche mit dem Bundeskanzler
Wie herausfordernd ist der Polit-Betrieb?
Ich hatte nicht damit gerechnet, sofort an den Koalitionsverhandlungen beteiligt zu werden, innenpolitische Sprecherin zu werden und für Religionspolitik zuständig zu sein. Interessant, dass sich jetzt die Muslimin um die Christen und um die Juden kümmert. Schön, dass das möglich ist. Schön aber auch, dass es nicht so betont wird. Ich bin kein ängstlicher Typ, ich gehe durch die Türen, die sich mir öffnen. Ich bringe als Teil des erweiterten Fraktionsvorstands andere Farben mit ein, ich werde migrantisch gelesen, ich habe einen anderen sozioökonomischen Hintergrund als viele andere, ich bin von Krieg betroffen, mein Vater ist vor drei Jahren in Syrien getötet worden, das wünsche ich niemandem. Diese Erfahrungen prägen, die bringe ich in die Arbeit mit ein.
Konnten Sie schon etwas bewirken für Duisburg?
Konkret ist das schwer zu sagen. Aber es gelingt mir auf jeden Fall zusammen mit den anderen Duisburger Bundestagskollegen mehr Aufmerksamkeit für unsere spannende Stadt zu schaffen. Ich sitze jeden Dienstag bei der Bundesinnenministerin. Und da konnte ich zum Beispiel auf die Probleme bei der Registrierung der ukrainischen Geflüchteten aufmerksam machen, weil es dafür in Duisburg nur zwei PIK-Geräte gab. Wenige Tage später gab es mehr Geräte.
Sonst betrifft vieles andere natürlich Duisburger mit. Hingewiesen habe ich auf die Probleme bei der Identitätsfeststellung von syrischen Geflüchteten, die in die syrische Botschaft nach Berlin müssen und dort 600 Euro für einen neuen Pass zahlen. Da viele von ihnen staatliche Hilfe bekommen, finanzieren wir auf diesem Weg mit unseren Steuergeldern das Assad-Regime. Das muss sich ändern.
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Duisburg als „Realitätscheck“
In Duisburg fühlen sich viele überfordert von der Aufnahme Geflüchteter, vom Zuzug aus Südosteuropa. Können Sie die Ängste der Duisburger in Berlin platzieren?
Wir bereiten gerade das Migrationspaket III vor. Wir verhandeln mit den Ampelpartnern und bei manchen Vorschlägen kann sagen, dass das in Duisburg nicht funktionieren wird. In der Politik fehlt manchmal der Blick, was geht und was Menschen überfordert. Deshalb treffe ich mich regelmäßig mit städtischen Vertretern, um zu lernen und zu verstehen. In Berlin sind wir oft so in den Gesetzestexten, dass man den Bezug verliert, was die einzelnen Paragrafen für die Menschen bedeuten. Duisburg ist für mich im besten Sinne der Realitätscheck. Die Stadt bietet so viele Möglichkeiten. Und vieles können wir einfach nur besser machen, weil es bis jetzt nicht gut läuft. Duisburg ist eine Blaupause für unsere Gesellschaft, für unsere Einwanderungsgesellschaft.
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Das klingt fast, als wären wir in New York.
Die Stadt ist kosmopolitisch. Würden wir sozioökonomisch sehr gut dastehen, dann würden alle diese internationale Stadtgesellschaft ganz toll finden. Ich fühle mich wohl hier, ich sehe viel Potenzial. Andere Städte haben nicht so viel zu bieten. Natürlich haben wir Antisemitismus, Rassismus, Frauenhass, Kinderarmut, organisierte Kriminalität. Aber im Großen und Ganzen leben wir in einer freien Gesellschaft, dürfen leben, glauben, lieben, denken, was und wie wir wollen.
Hilft Ihr Glaube bei der Arbeit?
Ich bekenne mich zu meinem muslimischen Glauben progressiver Prägung. Es gibt mir etwas, daran zu glauben, dass göttlicher Beistand erbeten werden kann.
Wo werden Sie in zehn Jahren sein?
Ich gehe ohne Erwartungen los. Der Prophet Mohammed hat gesagt: Vertraut auf Gott, aber bindet euer Kamel erst an! Man muss also schon selbst etwas tun für sein Glück. Wenn ich das Gefühl habe, ich würde meine Familie oder mich selbst verlieren, würde ich die Politik verlassen. Vielleicht schreibe ich dann Kinderbücher, forsche oder unterrichte wieder. Ich bin beruflich breit aufgestellt und offen für vieles.
Wie geht es Ihnen nach zwei Jahren mit den Grünen?
Eine Wählerin hatten sie in mir immer. Ich war schon immer umweltbewusst, fahre gern E-Scooter und Elektro-Auto. Ich bin in der Partei sehr herzlich und wohlwollend aufgenommen worden. Wir sind sehr familiär aufgestellt, in anderen Parteien geht es hierarchischer zu, weniger durchlässig. Ich fühle mich wohl und kann nur dafür werben, zu uns zu kommen. Gern auch mehr Menschen mit internationalen Wurzeln, mehr Frauen. Das gilt auch für den Bundestag.