Essen. Nur 55,5 Prozent gaben bei der NRW-Landtagswahl ihre Stimme ab. Darunter habe vor allem die SPD gelitten, sagt Politikexperte Martin Florack.
Historisch niedrig war die Wahlbeteiligung bei der Landtagswahl 2022. Warum aber gaben gerade einmal 56 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimmen ab? Ein Gespräch über mögliche Ursachen mit Dr. Martin Florack, Politikwissenschaftler und Fellow an der NRW School of Governance.
Herr Florack, SPD-Spitzenkandidat Thomas Kutschaty sagt, dass die niedrige Wahlbeteiligung zu Lasten seiner Partei gegangen sei. Liegt er da richtig?
Martin Florack: Ja. Viele potenzielle SPD-Wähler sind tatsächlich nicht wählen gegangen. Nichtwahl hat aber auch strukturelle Gründe. Auch wenn es keinen Automatismus gibt: es gibt tendenziell eine soziale Verzerrung der Wahlbeteiligung. Je gebildeter und je wohlhabender, desto höher die Wahrscheinlichkeit zur Wahl zu gehen. Und umgekehrt.
Liegt darin nicht eine Crux? Die SPD will Politik für die sogenannten kleinen Leute machen, aber die Partei erreicht viele mit ihren Themen und Inhalten nicht mehr.
Umso wichtiger wäre es, in andere Wählersegmente vorzustoßen. Der SPD ist es aber nicht gelungen, sich für andere Wählergruppen interessant zu machen.
Sind andere Gruppen jüngere Gruppen?
Junge Menschen wählen seltener als ältere und es sind auch viel weniger. Wenn man Wahlen gewinnen will, muss man bei den älteren Wählerinnen und Wählern punkten – zumal diese in der Zahl immer weiter zunehmen. Hier lag die CDU deutlich vorn.
Der Kanzler hat es für Kutschaty aber auch nicht retten können.
Der gemeinsame Wahlkampf in NRW war für beide eine riskante Wette, die nicht aufgegangen ist. Das Wahlergebnis zahlt insofern für die gesamte SPD ein. Aber der Bundeskanzler hatte auch keinen Amtsbonus. Wo sollte dieser angesichts der schwierigen Gesamtlage und seiner kurzen Amtszeit auch herkommen.
Ministerpräsident Wüst ist einer der klaren Wahlsieger. Beobachter bescheinigen ihm, kaum Fehler gemacht zu haben.
Das ist richtig. Wahr ist aber auch, dass die Regierungszufriedenheit bei den Wählerinnen und Wählern in NRW chronisch niedrig ist. Denoch hat niemand der SPD zugetraut, es besser zu machen. Und Hendrik Wüst hat in diesem Wahlkampf nicht polarisiert. Aber es gab durch den Pesonenwechsel eine automatische Abgrenzung zu seinem Vorgänger Armin Laschet und dessen Regierungsstil. Diese Abgrenzung hat Wüst insbesondere bei den älteren Wählern genutzt wie auch eine extreme Kontrolliertheit im Auftreten.
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An den Grünen führt kein Weg vorbei bei der Regierungsbildung. Warum?
Weil sie diesmal bei den älteren Wählern nicht eingebrochen sind, weil sie in Städten wie Köln und Münster dominante Kraft geworden sind und auch Direktmandate gewannen. Das hilft dann für das landesweite Ergebnis. Wichtig war zudem, dass Spitzenkandidatin Mona Neubaur nicht versucht hat, sich als dritte Kandidatin für das Ministerpräsidentenamt zu profilieren oder die Popularität der grünen Bundesminister Baerbock und Harbeck im Wahlkampf zu schmälern. Im Gegenteil, sie hat die bundespolitische Erfolgswelle erfolgreich geritten.
In vielen Städten vor allem im Revier wächst die Zahl der Menschen, die kaum oder kein Einkommen haben, die sich abgehängt fühlen und von der Politik nicht mehr repräsentiert. Sind diese Wahlberechtigten für die Parteien verloren?
Nein, Nichtwähler können auch wieder aktiviert werden. Aber die Wahrscheinlichkeit, Wähler zu gewinnen, ist viel höher, als diese Menschen mit aufwendigen anderen Beteiligungsformaten zu aktivieren. Einige der vorgeschlagenen Lösungen wie beispielsweise direktdemokratische Verfahren dürften das Problem der sozialen Verzerrung sogar noch verstärken.
Zum Schluss noch ein Blick nach vorn. Ein Patentrezept für eine höhere Wahlbeteiligung bei Landtagswahlen ist aus Sicht der Wahlforscher nicht in Sicht, oder?
Landespolitik ist nicht besonders sexy für Wähler. Es gibt überall Verflechtungen, sie ist eingezwängt zwischen dem Bund und den Kommunen. Diesmal kamen der Krieg und die Pandemie dazu, diese Probleme, die die Menschen massiv berühren und belasten, überlagerten den Wahlkampf. Dass sich viele Botschaften an die Wählerinnen und Wähler versendeten, war da fast schon normal.